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Little Simz – Sometimes I Might Be Introvert

© AGE 101

Normalerweise will ich mir bei großen Alben Zeit für eine Rezension lassen. Alben, die länger als eine Stunde dauern, brauchen und verdienen noch mehr Aufmerksamkeit, vor allem dann, wenn man das Werk beurteilen will. Bei Little Simz und ihrem neuen Album Sometimes I Might Be Introvert konnte ich aber nicht anders, als relativ rasch eine Review zu schreiben. Schlichtweg, weil ich weiß, dass sich mein Gefühl und meine Bewertung nicht mehr ändern wird. Seit Erscheinen bzw. Erhalt läuft die Platte durchgehend.

Es ist eines der meistersehnten Alben dieses Kalenderjahres: Das vierte Studioalbum von Little Simz, die 2019 mit dem Vorgängerwerk Grey Area sowohl Fans als auch Kritiker begeistern konnte. Die Erwartungen an das neue Projekt sind dementsprechend groß, die Vorabsingles machten nicht nur Laune, sondern sorgten vor allem für Zuversicht, dass Simbi ihren Erfolg wiederholen könnte. SIMBI ist kein schnell produziertes Album, sondern ein Epos. 65:12 Minuten, neunzehn Tracks. Wir müssen uns also mehr Zeit nehmen.

Introvert: Pauken, Posaunen, ein Orchester zum Beginn. Eine größeres Zelebrieren ist nicht mehr möglich. Und wenn dann nach knapp einer Minute das Schlagzeug einsetzt, wird’s richtig episch. Der Refrain wird von Cleo Sol gesungen. Simz the artist or Simbi the person?

To you I’m smiling, but really, I’m hurting genau darum geht’s auch in diesem Album. Wir bekommen hier einen hochpolitischen Text, der voller Zorn aber auch Stolz ist (I’m a Black woman and I’m a proud one). Ein Song der nicht nur episch klingt, episch ist, sondern auch Hoffnung macht (Find a way, I’ll find a way / The world’s not over). Das Outro wird von Emma Corrin gesprochen (The Crown). Ein wiederkehrender Charakter im Laufe des Albums. Dieses Bambambam – so unglaublich mächtig. Mit einem lauteren, kräftigeren Knall kann man nicht in ein Album starten. Der Schlusssatz As you embark on a journey / Of what it takes to be a woman dient als Codewort für das versiegelte Schloss, das das dahinterliegende Paradies bewacht.

Woman (feat Cleo Sol): Und los geht’s. Es wird smooth, das Instrumental holt die Hörer:innen sofort ab. Wer hier nicht mit dem Kopf nickt, hat keinen. Easy as that. Lyrisch bekommen wir hier eine Hommage an Frauen die Simbi beeinflusst haben und gleichzeitig eine Hymne für den Zusammenhalt zwischen Frauen. Der Refrain kommt wieder von Cleo Sol – und spätestens jetzt könnte dem ein oder anderen aufgefallen sein, dass es sich bei ihr um eine jener Sängerinnen handelt, die derzeit mit der Gruppe SAULT für Furore sorgt. Sämtliche Songs von Sometimes I Might Be Introvert wurden von Inflo produziert, er soll auch der Kopf hinter SAULT sein. Ja, je mehr man hört, desto offensichtlicher werden die Parallelen. Simz passt perfekt auf den smoothen Beat. Ein Brett.

Two Worlds Apart: Hier wird ein Sample von Smokey Robinsons „The Agony and the Ectasy” verwendet. Ja, Smokey Robinson und Simz passen tatsächlich gut zusammen. Sie kann auch easier, muss nicht durchgehend den ernsten Politikzeigefinger heben, bleibt aber auch in einem vermeintlich easieren Track nicht verlegen, Dinge beim Namen zu nennen: Who knew love would be so damn toxic? (Oh-ooh) / I am intoxicated, exhilarated, finally moved on. Wie schon gesagt, es ist ein ultra-persönliches Album.

I Love You, I Hate You: Laut eigener Aussage einer der schwierigsten Songs, den sie jemals zu Papier bringen konnte. Auf Grund der Thematik auch verständlich. Simz arbeitet hier ihre Familiengeschichte auf, insbesondere das Verhältnis zu ihrem Vater. Wieder wird sie dabei von einem fast verträumten Orchester unterstützt, ehe das Klavier mit ein paar Akkorden zusammen mit den Drums den sehr reduzierten Beat darstellt. Ein Song, der sich wellenartig bewegt, mal voll aufschlägt, mit dem gesamten Orchester oder eben sehr reduziert durch die Strophen navigiert wird. Chöre im Hintergrund geben noch eine weitere Tiefe. Und inhaltlich bekommen wir extrem viele Infos zu ihrem Leben, ihrem Zusammenleben mit ihrem Vater und den Auswirkungen seines Verhaltens. Irgendwann kommt die Frage Is you a sperm donor or a dad to me? And still die anklagt. Trotzdem löst sich der Song versöhnend auf, sie verzeiht ihm zwar nicht, aber sich selbst.

Little Q, Pt. 1 (Interlude): Das erste Interlude des Albums, gleichzeitig der erste Teil der Little Q-Serie (wenn man so will). Little Q ist Simz Cousin, mit dem sie sich jahrelang sehr gut verstanden hat, bis sich die Wege im Erwachsenwerden nach und nach trennten. Sie fanden sich wieder und Simbi musste erfahren, dass Q fast gestorben wäre. Seine Geschichte sollte Gehör finden. Das Interlude startet mit eingängigem Lalala-Gesang, ehe eine männliche Stimme den Verlauf zwischen Simz‘ und Qs Verhältnis anteasert.

Little Q, Pt. 2: Und so wird dann die gesamte Geschichte in Little Q, Pt. 2 erzählt. Aus seiner Sicht, wohlgemerkt. Wir bekommen hier Storytelling der höchsten Klasse, die man sonst nur von den ganz großen der Rap-Welt geliefert bekommt. Auf einen Beat, der wieder so easy und smooth daherkommt, der im Grunde genommen im krassen Gegensatz zur Story steht. Einzelne Zeilen herauszupicken würde in einem wahren Versfest, in einer Orgie, enden. Der Refrain bohrt sich rein und bleibt im Ohr – bis wieder die nächste Nummer von Little Simz startet. Kurzes Fazit nach sechs von neunzehn Tracks: Wir haben bisher nur Banger.

Gems (Interlude): Wenn man normalerweise Interlude auf Alben liest, dann dauert das Dargebotene meistens nur wenige Sekunden, vielleicht eine halbe Minute. Bei Simz ist das anders, die Interludes sind vollwertige Songs, wenn auch zu unterscheiden von den eigentlichen Liedern. Gems erinnert mich an Harry Potter, wieder an eine magische, verträumte Welt. Die Glockenspiele machen es möglich. Bis Emma Corrin über Chöre vom Atmen spricht und in einen Dialog mit Simbi tritt. Die eine gibt Ratschläge, die andere verteidigt ihre Entscheidungen und klagt ihr Leid. Follow Your Heart, It Will Guide You. Orchestral wunderbar, fast ein wenig kirchlich, oder wie beim Einspielen vor einer Opernproduktion.

Speed: Das Orchester wird ausgetauscht, jetzt kommt der Bass und die Drums mit Synthis. Das Leben ist ein Marathon, kein Sprint – so dürfte man die Lyrics zusammenfassen. Die Hook fällt aus, da darf ein abgespactes Instrumental herhalten, das aber auch seinen Zweck erfüllt. Still running with ease, marathon, not sprint – so schließt sie.

Standing Ovation:  Von Staccato Streicher geht es wieder ins Orchester über. Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, die richtigen Worte für diesen Song zu finden. Ja, langsam wiederholt man sich, wenn man von „mächtig“ spricht. Es gibt aber kein anderes Adjektiv, das mir einfällt. „Schön“ vielleicht. „Kathartisch“. Eine Ode an alle Menschen, vor allem aber an jene, die alles zusammenhalten, ein Dankeschön an jene, die nicht nur in der Pandemie das Rad am laufen halten. Und auch ein eigener kleiner Schulterschlag, für das bisher erreichte. Umgesetzt wieder mit Orchester und Breaks – Inflo darf man allein für diese Nummer gratulieren. Sound wie von SAULT, nur eben noch ein Stück besser, noch ehrlicher. Obwohl das Thema für sämtliche Heucheleien aufgelegt wäre, glaubt man Simbi ihren Vortrag. Einfach nur Danke!

I See You: Eine Gitarre gröhlt im Hintergrund, klagend wie ein junger Hund, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll. Eine weitere akustische Gitarre, als Anführer der weiteren Band. Und Simz, die ihr Herz ausschüttet. Ich habe bisher nicht herausfinden können, wer den Refrain singt – ob es wieder Cloe Sol ist oder gar Simz selbst – aber egal: Es passt so wunderbar. Ein Liebessong, der die Liebe auch feiert und dabei auf sämtliche Übersexualisierung verzichtet. Einfach ehrlich, echt – echt schön.

The Rapper That Came To Tea (Interlude): Eigentlich sind diese Interludes ja wirklich sowas wie Rezitative in Oratorien. Statt Cembalos gibt’s in diesem Fall einfach mehr Bläser und Pauken. Aber immer wieder den Text von Emma Corrin und einen Chor, der Simbis Inneres wiedergibt. Wie für die anderen Interludes gilt auch hier die perfekte Umsetzung dank hervorragender Komposition. Auch wenn man glauben könnte, dass solche Tracks aus der Reihe fallen, muss man ihnen den gegenteiligen Effekt zuschreiben: Sie werten das Album auf einer ungewohnten Ebene noch einmal auf. It don’t matter where you are / You can still reach for the stars – dieser Staccato-Chor ist schlichtweg Feuer, heißer als heiß.

Rollin Stone: Was so unschuldig anfängt entwickelt sich zu einem echt harten Rap-Track. Hier werden die Handschuhe ausgezogen, die Ärmel nach oben gekrempelt und auch mal in die Fresse geschlagen. Krasser Gegensatz zu den bisher gehörten Tracks, sehr böser Beat, was Simz aber auch sehr gut steht. Sie bringt ihren bösen Zwilling auf die Bühne, der auch gleich nach Berlin zieht. Richtiger Banger.

Protect My Energy: Jetzt hat die Soundmaschine ihren großen Auftritt, wir kommen zu einem Synthi-Disco-Electro-Beat. Simbi singt selbst, der Song erinnert an Tkay Maidza, die für diese Art von Sound bekannt wurde. Simz steht ein wenig Gesang ebenfalls sehr gut. Wir sind jetzt weit weg von den Orchesterklängen und trotzdem passt alles noch zusammen.

Never Make Promises (Interlude): Ein A Cappella Chor der einen Kanon vorträgt, bis die Stimmen mehr und mehr verschwinden. Ein kurzer Energieboost.

Point and Kill (feat. Obgonjayar): Simbi sagt selbst, dass dieser Song sich wie Nigeria anfühlt. Man versteht warum. Im eigenen Wohnzimmer aufgenommen, hat sie sich mit Ogbonjayar tatkräftige Unterstützung geholt und holt zum Afrobeat-Rundschlag aus. Wieder Bläser zwischendrin, aber in erster Linie ein enorm ansteckender Refrain. Point and Kill als Phrase klingt angsteinflößend und geht auf die Fischmärket in Nigeria zurück. Man sucht sich einen Fisch aus, zeigt drauf und er wird getötet. Von Mord und Totschlag ist dieser Song weit entfernt.

Fear No Man: Nahtlos gehen wir über in Fear No Man. Percussions, Hang eröffnen den Track. Sound wie am Karneval von Rio. Immer wieder Chöre, hauptsächlich angetrieben von den verschiedenen Trommeln. Man kann von einer koordinierten Jam-Session sprechen, die von Simbi mit der Aussage untermalt wird, dass sie sich vor keinem Mann bzw. vor absolut niemanden fürchtet. I get what I want when I want it. Zwischendrin wird sie noch zum Super-Saiyan. Steht ihr.

The Garden (Interlude): Paradiesisch, verträumt – Harfen, Streicher, Chöre; das Orchester ist wieder da. Emma Corrin auch, die erklärt, dass man erntet, was man säht. Wunderbar umgesetzt, mit einem Break zum Schluss, das nur aus a capella Chören besteht.

How Did You Get Here: Das Klavier dieses Tracks erinnert mich an „You’re My Waterloo“ von den Libertines. Hat aber natürlich nichts damit zu tun. Wieder ein sehr reduzierter Song, den Simz an sich reißt und in dem sie ihre Geschichte erzählt. Das Storytelling, ihr Flow, der Beat – es stimmt alles. Man kann nur mit dem Kopf schütteln – voller Anerkennung. Knapp fünf Minuten zum Genießen, zum genau zuhören und zum dankbar die Hände falten, dass Little Simz an ihre Träume geglaubt hat und es geschafft hat, sich in der Musikwelt – trotz aller Widrigkeiten – durchzusetzen.

Miss Understood: Der Closer. Das Klavier bildet das Zentrum des Instrumentals, Simz legt noch einmal los. Miss Understood ist nicht der große Burner zum Finale, sondern wieder reduzierter, was im Kontext der Anordnung der Songs auch sehr viel Sinn macht. Auch inhaltlich nimmt er How Did You Get There nichts weg. Eher ergänzt er noch einige Handlungsstränge. Und dann sind die 65 Minuten vorbei.

Wenn man bedenkt, wo man vor einer Stunde gestartet ist, dann ist die Vielfalt und die Umsetzung dieser Platte einfach nur großartig. Little Simz ist den Erwartungen nicht nur gerecht geworden, sie hat sie meiner Meinung nach noch übertroffen. Ich finde hier keine Schwächen, keine Nuancen, die etwas zu viel oder zu wenig erscheinen lassen. Ihr Storytelling ist sowohl bemerkens- als auch bewundernswert, die Produktion von Inflo schlichtweg atemberaubend gut. Es gibt unzählige Dinge, die man auf Sometimes I Might Be Introvert entdecken kann und entdecken wird. Ihre Texte sind persönlicher denn je, gleichzeitig aber weiterhin hochpolitisch. Statt Wut und Zorn, erleben wir hier Poesie in ihrer schönsten Form.

Um es kurz zu sagen: In einer Woche, in der sowohl Kanye West, als auch Drake ein neues Album veröffentlich haben, ist es Little Simz, die den Preis für die beste Neuerscheinung abholen darf. Und dabei wird es nicht bleiben. Sometimes I Might Be Introvert ist eine der besten Platten des Jahres, wenn nicht sogar die allerbeste. Ladies und Gentlemen – die zweite volle Pandroid-Anzahl in diesem Jahr.

5/5 Pandroids

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