Zum Inhalt springen

HELENE FISCHER – RAUSCH

© Polydor Records

Die Klatschzeitungen sind voll: Helene Fischer ist schwanger. Und außerdem hat sie nach vier Jahren auch wieder ein neues Album für ihre Fans aufgenommen. Rausch, ein mindestens 18-Track langes Werk, das sich auf die Suche nach einem Atemlos-Nachfolger begibt. Kann Deutschlands größter Schlagerstar fündig werden?

BACKGROUND

Muss man noch viele Worte über Helene Fischer verlieren? Vermutlich nicht. Die 37-Jährige ist einer – wenn nicht DER – größte Musikstar der deutschsprachigen Szene. Zwischenzeitlich wurde es ein wenig ruhiger um die gebürtige Russin, ehe sie auf Grund ihrer Schwangerschaftsverkündung sämtliche Klatschblätter des deutschsprachigen Raums füllte. Die Ankündigung eines neuen Albums schien da fast schon ein wenig unterzugehen. Jetzt wo die Platte schließlich da ist, kann man sich Helene Fischer nicht entziehen. Nahezu überall poppt ihr Name oder ihr Gesicht auf – sowohl im Internet, dem gedruckten Papier oder im Fernsehen im Hauptabendprogramm. Helene ist offiziell zurück.

PRODUKTION

Man kann von Helene Fischer halten was man möchte, neidlos anerkennen muss man aber in jedem Fall ihr fantastisches Gespür für Geld. Ihre Toureinnahmen brachten sie 2018 unter die Top Ten der einkommensstärksten Sängerinnen weltweit – rund 3,2 Millionen Euro soll sie pro Konzert eingenommen haben. Warum das im Produktions-Teil erwähnt wird? Weil Fischer auf Rausch als Co-Produzentin aufgeführt wird. Sprich – sie verdient an Lizenzeinnahmen mit, da sie offziell als „Helene Fischer, unter der Exklusiv-Lizenz der Universal Music GmbH veröffentlicht. Nicht nur die Künstlereinnahmen stehen ihr zu, auch die Einnahmen als Co-Produzentin werden ihr einen ordentlichen Geldregen bescheren. All das ist weder verwunderlich noch sonderlich verwerflich, sondern auch insofern klug, als dass es ihr einen gewissen Spielraum im Zusammenhang mit anderen Produzenten gibt. Sie kann die Verträge sehr individuell gestalten und die Einnahmen auf mehrere Köpfe verteilen.

Das ist auch nötig, da auf Rausch nicht weniger als 28 Produzenten mitwirken. 28 verschiedene Musiker:Innen sind für den Sound der 24 Songs der Deluxe-Version zuständig. Ja, da gibt es keinen Zusammenhang mehr, keine rote Linie, die sich durch das Album zieht. Aber bei einem 24-Lieder umfassenden Doppelalbum kann man das auch nicht erwarten – zumindest nicht im Schlager-Genre. Man stelle sich das vor: Helene Fischer bringt eineinhalb Stunden ein und denselben Sound, dieselben Texte, das selbe Schluchzen – es wäre langweilig und vermutlich auch ziemlich furchtbar.

Natürlich erwarten sich Fans von Helene Fischer ein neues Atemlos. Der Megaerfolg und mittlerweile nervigste Post-Hochzeitssong seit der Erfindung der Polonaise, will einen Nachfolger finden. Ein Lied, das sich ins Ohr brennt – egal ob man will oder nicht. Und egal wie oft man sich durch die 24 Tracks durchhört – man findet es auf Rausch nicht. Dafür aber eine Reihe von anderen interessanten Beobachtungen.

REVIEW

Nämlich: Wo ist der Schlager? Vielleicht müssen wir das Genre generell neu denken. Nicht zuletzt durch den Erfolg Fischers im vergangenen Jahrzehnt, boomte das Genre wie schon lange nicht mehr. Der einst harmlose und altbackene Schlager bekam ein frisches, junges Gesicht und fand den Einzug in den Mainstream. Dieter Bohlen suchte jährlich nicht nur nach dem nächsten Superstar, sondern vor allem nach dem nächsten Schlagerstar. Fischer stieß die Tür für eine Generation an Nachahmer:innen auf und ließ die Grenze zwischen Schlager und deutscher Popmusik verschwinden. Das geht mittlerweile so weit, dass vom klassischen Schlager nichts mehr übrig ist – zumindest nicht bei der Musik, die Fischer uns anbietet. Und um ehrlich zu sein – da bin ich nicht unglücklich. Wie gesagt, eineinhalb Stunden reinen Schlager zu hören (vor allem mehrmals) würde mich vermutlich in geistige Zustände führen, die ich noch nicht kenne und aus denen ich nicht weiß, ob man noch einmal rauskommen kann.

Sagen wir wie’s ist: Rausch ist ein Pop-Album, mit ein paar auslaufenden Schlagerstrahlen. Das wird nicht bei jedem Fan gut ankommen, wohl aber etliche mehr zu Fischer hinziehen. Die Balladen die Rausch bietet, können versöhnlich sein. Im Gegensatz dazu stehen eine Reihe von Songs, die mit massiven Dance-Beats aufschlagen, zu denen sämtliche Körper dieser Welt tanzen sollen.

Dabei fängt alles sehr unschuldig an. Volle Kraft voraus beginnt mit Klavier und Streichern, Helene singt davon, dass jede Reise auch ein Ende hat, bevor eine neue beginnt. Eine Powerballade, melodisch so neu und frisch wie ein alter Turnschuh. Aber grundsolide, angenehm mit viel Potential für eine massive Inszenierung. Hier holt sie ihre alten Fans ab. Die neuen kommen dann bei Wenn alles durchdreht in den Genuss ihrer Dance-Beats. Helene versucht hier wie Joe Cocker zu singen, vielleicht hat sie im Vorfeld der Schwangerschaft den ein oder anderen Whiskey vor der Aufnahme gekippt, um die Stimme ein wenig dreckiger zu machen. Ein Lied wie wir es aus den USA kennen – nur mit deutschem Text: Wechselspiel zwischen Refrain-Lines und elektronischen Beats.

Für große Aufregung sorgte Vamos a Marte. Die Kollaboration mit Despacito-Sänger Luis Fonsi sollte ihr die Tür zum internationalen Markt aufstoßen – das kann auch noch gelingen. Im Großen und Ganzen klingt das Lied aber wie ein besserer Songcontest-Song. Latin ist so angesagt wie nie, da wundert es nicht, dass man hier auch auf diesen Zug aufspringt. Helene und Fonsi funktionieren zusammen, Beatzarre und Djorkaeff sorgen für den Beat.

Jetzt reicht‘s dann aber auch wieder mit den ganzen Tanz-Nummern. Zeit zu entspannen, Zeit für eine weitere Ballade. Null auf 100 verschreibt sich wieder dem Klavier, bis wieder Fahrt aufgenommen wird und ein Beat einsetzt. Ein wenig Tomorrowland im Fischer-Kosmos. Also richtig ruhig wird’s wieder nicht.

Dankbarkeit schreibt Helene auch ganz groß. Engel ohne Flügel widmet sie den Helden der Pandemie, den Krankenpflegern und Helfern. Musikalisch orientiert sie sich im Refrain offenbar an Zuccheros Everybody got to learn sometime nur ohne Oh-oh-oh-Chöre. Keine ruhige Ballade, aber auch kein Disco-Hit – einfach ein solider Pop-Song, der sich ins Ohr brennt. Jetzt ist aber wirklich Zeit für ein wenig Ruhe. Danke für dich bildet einen ultimativen Liebessong, der auf einem Klavier und Streichern aufbaut. Wunden packt die Gitarren und die E-Drums aus, ehe wieder Latin-Beats übernehmen. Helene traut sich mehr, überwindet endgültig Genre-Grenzen. Inhaltlich müssen wir übrigens nicht sonderlich viel sagen – es geht um Liebe. Immer.

Außer es geht nicht um Liebe. Wann wachen wir auf bringt Helene in eine sehr undankbare Rolle. Der Song wird von Corona-Schwurblern eingenommen, zumindest versuchen sie es, in der vollen Überzeugung, dass Helene eine von ihnen sei. Klar, man kann den Text so lesen – wenn man möchte. Allerdings dürfte die Intention die komplett gegenteilige sein. Ein gesellschaftskritischer Text im Schlagermantel – Sachen gibt’s im Jahr 2021. Musikalisch klingt das sehr wie ESC-Gewinnersong Euphoria. Spiele kennt man auch schon von anderen Künstlerinnen, hat stimmlich was von Dua Lipas New Rules, sonst gilt hier: weniger ist mehr. Ein paar Akkorde reichen aus, um die volle Wucht herauszubekommen.

Liebe ist ein Tanz verbindet Violinen mit Schlagerpop-Beats und kupfert von Maggie Reillys Everytime We Touch ab. Auch wenn wir zuvor schon von ultimativen Liebeserklärungen gesprochen haben, müssen wir bei Hand in Hand eine weitere Superlative einführen. Ein Lied, ihrem Partner Thomas Seitel gewidmet, dass tatsächlich auf Hochzeiten gespielt werden wird. Ganz große Gefühle, auch massiv kitschig. Aber man kann es ihr nicht Übel nehmen, auch solche klassischen Schlager-Balladen zu bringen.

Plötzlich taucht ein Kinderchor auf. Auf Zuhaus, dessen Melodie ebenfalls schon zum Einmaleins der Popmusik gehört, wird sie zur Klimaaktivistin. Also vor gesellschaftsrelevanten Themen scheut sie definitiv nicht zurück. Die Hereinnahme eines Kinderchors bei diesem Song hat natürlich auch großen Symbol-Charakter. Aber vielleicht hätte sie auch einen Chor aussuchen können, dessen Stimmen ein wenig ausgereifter sind. Sehr dünn.

Damit erreichen wir das Ende der ersten Seite der Deluxe-Version. Der titelgebende Track Rausch eröffnet Seite zwei und wir werden in den Orient entführt. Mit ein wenig mehr Tempo hätte sie hier den nächsten Sommerhit schreiben können, so bleibt man versucht zu sagen, dass sie auf halber Strecke stehen bleibt – weil das auch schon ausreicht. Die alte Helene gibt’s dann endgültig in Blitz. Gitarren und Vollgas Schlager-Beats. Boom-Boom-Boom und Whiskey-Helene schaut auch wieder vorbei. Diese Phase des Albums ist ganz eindeutig ihren langjährigen Weggefährten gewidmet. Genau dieses Gefühl holt wieder die Hardcore-Fischer-Fans ab. Ein seichter, mit Ohohoh-Chören übersäter Song, der wirklich nur als Fanservice angesehen werden kann. Eine nette Geste, klar, aber schon sehr abfallend zum Rest der Platte.

Worum es um Die Erste deiner Art geht, bleibt mir auch nach mehrmaligem Hören rätselhaft. Den genauen Adressat kann ich nicht ausmachen, jedenfalls versucht Helene hier wieder in den Power-Pop umzuschwingen. Der Refrain erinnert an alte Lieder von Girlgroups, also auch schon wieder an was, das man schon öfter gehört hat. Bis du wieder scheinst ist ein Lied, das wir auf diesem Album schon gehört haben und erklärt damit auch, warum es nur auf der Deluxe-Version gelandet ist. Wird nicht in Erinnerung bleiben. Aber immerhin macht sie Mut und Hoffnung. Wir werden eins hat wieder eine gesellschaftspolitische Botschaft verpackt in Musik, die den Mainstream schon länger erreicht hat und dessen gesanglicher Vortrag sich an The Weeknds I Feel It Coming orientiert. Von Liedern wie Glückwärts hat Helene Fischer schon ca. zehn geschrieben. Eine Ballade, die niemandem wehtut, harmlos, nett.

Alles von mir reiht sich in die Kategorie Powerballade ein, Streicher und Klavier und ein vollständiger Verzicht auf irgendeinen Beat. Auch dieses Lied kann natürlich auf Hochzeiten erklingen. Helene hat genug von diesen ruhigen Klängen und drückt bei Jetzt oder nie noch einmal aufs Gaspedal. Sehr energiegeladen, allerdings nichts, was länger im Ohr bleibt – weil man das einfach schon zu oft gehört hat.

Zeit baut sich langsam, aber stetig zu einer weiteren großen Ballade auf. Das Schlagzeug und die Streicher dienen als Anker und bringen ein wenig Pepp in den Song. Wir wandeln hier immer knapp am Abgrund zum nicht mehr erträglichen Kitsch. Helene nimmt sich auf Luftballon richtig viel Zeit – über vier Minuten – und liefert die wohl beste Ballade des Albums ab. Ein Lied über das Abschiednehmen, das vollkommen ohne Kitsch und Schmalz auskommt. Hier dürfte Helene tatsächlich aus tiefstem Herzen sprechen.

Rausch schließt mit Nichts auf der Welt und einer weiteren Danksagung Helenes – diesmal an ihre Eltern. Klavier trifft auf Beat, sie bleibt der Dualität der unterschiedlichen Genres dieses Albums treu. Für sie sicherlich ein wichtiges Lied, nach knapp eineinhalb Stunden nützt sich dieser Sound aber langsam aber sich ab.

FAZIT

Puh Rausch ist ein ganz schön langes Ding. Aber dank des Mix aus Pop und Schlager (oder dem, was davon noch übriggeblieben ist) immerhin nicht langweilig. Helene geht selten an ihre Grenzen, sie singt durch die Bank solide, ohne aufs Ganze zu gehen. Die Themen dieses Albums überraschen immer wieder – von sehr persönlichen Erfahrungen über gesellschaftsrelevante Themen findet sich hier sehr viel Unterschiedliches. Das beste zweier Welten? Kann man mit Unter argumentieren. Rausch ist ein Album für Fans, das einige Songs hat, die Helene auch einem anderen Publikum näherbringt. Musikalisch wird sehr vieles wiederverwertet. Ein neues Atemlos ist nicht in Sicht.

2,5/5 Pandroids

Schreibe einen Kommentar