© Chimperator Productions
GENRE: RAP
Es hat ein wenig gedauert, es wurde des Öfteren verschoben – aber jetzt ist es da: Das mit Spannung erwartete zweite Album von OG Keemo Mann beißt Hund. Gute zwei Jahre arbeiteten der gebürtige Mainzer und sein kongenialer Musikpartner Funkvater Frank am neuen Werk. Was dabei herausgekommen ist, schauen wir uns heute an.
BACKGROUND
OG Keemo sind Karim Joel Martin und Funkvater Frank. Keemo wurde 1993 in Mainz geboren. Und genau darum geht es auch in Mann beißt Hund – um das Aufwachsen in den Hochhaussiedlungen von Mainz. Nach ordentlichem Internethype wurde OG Keemo 2017 von Chimperator Produtions (unter anderem Cro) unter Vertrag genommen, 2019 erschien das Debütalbum Geist, das so ziemlich alles abriss, was es in der deutschsprachigen Hip Hop-Szene so gab. Ein Album wie ein Buch oder Film, mit zusammenhängender Handlung und sozialpolitischen Themen, die er haargenau und detailliert skizziert.
Geist wurde sofort in den Katalog des Deutschrap-Klassiker Kanons aufgenommen und Keemo mit Künstlern wie Kendrick Lamar verglichen. Dementsprechend groß kann der Druck für ein Nachfolge-Album werden. OG Keemo haben sich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen und – wenn auch mit einigen Verzögerungen – mit Mann beißt Hund einen würdigen Nachfolger präsentieren können. Wie schon der Vorgänger, ist das Werk als Gesamtkunstwerk zu betrachten, bei dem man zwar einzelne Songs herausnehmen kann, die volle Wucht und Pracht aber erst entfaltet wird, wenn man das Album auch – wie es sich gehört – als Ganzes hört. Und weil man recht schnell merkt, wieviel Arbeit in dieser Platte steckt, nehmen wir uns für die Review auch genug Zeit, um Werk, Künstler und Schaffen ordentlich Raum zu geben. 17 Songs, 53 Minuten Spieldauer warten auf uns.
TRACK BY TRACK
Um die klassischen Floskeln gleich zu Beginn auszupacken: Mann beißt Hund ist eine Reise in die Vergangenheit und eine zusammenhängende Geschichte. Keemo nimmt uns mit nach Mainz und stellt uns zwei weitere Charaktere vor.
ANFANG
Der Sound bleibt gleich. Funkvater Frank flippt Samples wie nur wenige im Business, hier kommen Streicher und eine High-Noon-Stimmung zum Einsatz. Keemo fackelt nicht lange, gibt uns Szenenbilder seiner Hood, in die er ganz frisch gezogen ist (Es war die erste Sonntagnacht in einer neuen Stadt). Er trifft jemanden auf der Treppe, einen offenbar ziemlich harten Burschen, der ihn um Feuer und sein Handy bittet. Man checkt sich gegenseitig ab, versichert sich, dass er nicht abgezogen wird und kommt mit ihm ins Gespräch.
Malik steht ihm Gegenüber, der ihn auch gleich zum gemeinsamen Genuss eines Joints einlädt. Malik wohnt zwölften Stock und hat einen Dobermann mit dabei – Atilla, den er lobt und wohl auch sehr liebt. Die beiden bleiben nicht allein, eine weitere Person kommt hinzu: Yasha, ein nicht gerade großer und furchteinflößender junger Mann. Aber auch er stellt sich als ziemlich zwielichtiger Typ heraus, der mit toten Augen auffällt und auf Gras, Alkohol und Sportwetten steht. Sie bleiben zusammen, Malik erklärt ihnen mit großen Reden die Welt, die auch nicht frei von Verschwörungstheorien sind (Malik hielt weiter große Reden vom Drogen nehmen und vom Hochhausleben / Von Satellitobservationen bis zu toten Vögeln / Von großen Plänen, von Geistern und Kuriositäten). Um die Begegnung zu zelebrieren, beschließen sie, einen Honda Civic zu knacken.
Keemo flowt sich in gewohnter und unwiderstehlicher Manier durch den Beat. Von der ersten Sekunde ist man gefangen, man sieht Szenen vor sich, kann der Story grob folgen, nur um bei jedem weiteren Hördurchgang auf Kleinigkeiten zu stoßen, die in weiterer Folge mal größer oder mal kleiner ausfallen können. Jedenfalls steht nach Track 1 schon fest, dass Mann beißt Hund kein 0815-Album zur reinen Unterhaltung der Streaming-Industrie ist.
CIVIC
Bläser eröffnen den zweiten Track, ehe wieder ein Stimmungswechsel vorgenommen wird. Ja, man erinnert sich schon dezent an Sidos Block. Die Mischung aus Big Band und Bounce ist unwiderstehlich, der Text schließt nahtlos an Anfang an. Der Civic wurde aufgebrochen, vermutlich spricht Malik hier zu uns. Es wird geflext, erklärt was er bisher so gemacht hat und dass er schon Erfahrung im Autoknacken hat (Ich fuhr den Beamer lange vor der ersten Probefahrt / Ich hatte Polo, als das Pferdemblem ein Fohlen war). Keemo switcht durch verschiedene Flow-Arten, alles geht extrem smooth von der Hand. Geschlossen wird der Track mit einem spoken Outro: Drei Jungs in ‘nem Civic, ah, der’s geklaut / Ein Hund auf der Rückbank, vorne wird geraucht.
HUND SKIT
Malik erzählt uns ein wenig mehr über die Welt, Hunde und Yasha. Hunde sind gar nicht so anders als wir. Im Hintergrund läuft im Autoradio irgendein Soul, der den Erläuterungen von Malik eine warme Note mitgibt. Wir leben in ‘ner Welt voller Hunde, diese ganze Welt ist voller Hunde!
MALIK
Oh boy, was für ein Brett. Der Beat knallt so fein durch die Boxen, Keemo zerstört ihn auf die feinste Art und Weise. Die paar, vielleicht bisschen weird anmutenden Klavier-Klämpfer passen perfekt hinein. Malik wurde schon Ende 2020 veröffentlicht und war erster Vorbote für Mann beißt Hund. Am Beat kann man eindeutig Funkvater Franks Handschrift erkennen, Langeweile gibt es bei ihm nicht, Wiederholungen auch nur mit kleinen neuen Feinheiten.
Keemo bringt uns Malik näher, der mit Neunmillimeter durch die Gegend geht und einen ordentlichen Batzen Geld in seinen Socken aufbewahrt. Keemo erwähnt wieder Sateliten und tote Vögel die vom Himmel fallen und bringt die ein oder andere Perle hervor (Frag nach mir, ich bin Usain, die Kondi in meinen Js ist unerreicht / 110 trainiert die Cardio, bis die Lunge pfeift). Alles aus einem Guss. Jedenfalls wissen wir jetzt, dass Malik der Mann fürs Grobe ist und alles besorgen kann, was man so braucht (oder auch nicht).
BIG BOY
Weirderer Beat, schrill, vielleicht auch absichtlich ein bisschen nach vorne gemischt. Scratches in der Hook, bis zur zweiten Hälfte ein echtes Break einsetzt und der Beat getauscht wird. Es wird ruhiger, fast schon entspannt. Und ja, spätestens da muss man zum ersten Mal an Kendrick Lamar denken, sowohl von Sound als auch Intonation des Vorgetragenen. Inhaltlich dürfte die erste Strophe tatsächlich von Keemo handeln, später dürfte wieder Malik übernehmen.
Greif’ nach Millionen, dipp’ und teil’ mit keinem mein Brot
Bis mich der Tod oder der weiße Mann holt
Ich hitt’ den Block und ess’ drei Monate von einer Aktion
Werd’ wieder broke und kann den Scheiß wiederhol’n, ja
Beim Big Boy handelt es sich um eine Makarow-Pistole, die Keemo (?) wohl vererbt bekam. Noch einmal wird Maliks Überzeugung von Satelliten umzingelt zu sein aufgenommen.
Denn Satelliten aus dem Orbit hab’n die Ohr’n auf mei’m Game (Ja)
Zähl’ nach, bis Blasen aus der Hornhaut entsteh’n
Und wenn man schon snitcht, dann wenigstens mit der richtigen Aussprache.
Mein Bro sagt, ihr seid corny, denn ihr labert vor der Police
Er sagt, am besten sagst du gar keinen Namen, wenn sie dich fragen (No)
Aber wenn, dann sag ihn’n, es heißt nicht MAlik, es heißt Malik (Bitch)
(Wer soll komm’n, denn) mit dem Big Boy, ja.
VERTIGO
Klavier zu Beginn, so richtig ordentlich, bis es mit Dauer des Tracks immer dezenter wird und schlussendlich verschwindet. Sirenenartige Klänge werden immer wieder eingestreut, was die Aussagen von Keemo unterstützen soll. Vertigo hat eine dunkle Botschaft: Der Lebensstil, das Gangstertum wird sie früher oder später einholen und früh sterben lassen. Keemo steht am Hochhaus und blickt über sein Revier, lässt auch Revue passieren, was bisher geschah und überlegt den Sprung in die Unendlichkeit zu wagen:
Ich zähl’ bis fünf und ich springe (Ja, ja, ja, ja)
Entweder ich flieg’ oder werde zur Erinnerung (Pah, pah, pah, puah)
Ja, ich habe Visionen von einer Million, wenn ein Coup gelingt
Ich steh’ um ein Uhr vorm Block und predige zum Mob, als wär ich Martin Luther King
In der Bridge liegt der Fokus auf Keemos Worte, der Beat setzt fast komplett aus:
Dieser Flug gelingt
Dieser Block ist nur für dich bestimmt
Kerosin in deiner Blutbahn
Wenn du’s nicht versuchst, dann bekommst du’s niemals hin
Du zählst in ‘ner Welt voll Rüden zu den
Letzten, die von der Art übrig sind
Du bist doch ein Goon, ein G, ein King, ein Gott
Keemo scheint in Konflikt mit seinem Gewissen zu geraten. Die zweite Strophe lässt eine innere Stimme zu ihm sprechen:
Du bist, warum man ‘ne Strap besitzt
Du bist der Grund, warum die Kette unterm Sweater sitzt
Du bist, warum’s hier hässlich ist
Du bist was besseres, Nigga
Dank dir ist die Trap nicht mehr sicher
Denn du bist das Schrecken
Du bist, warum die Slug nachts ihre Handtasche fester im Griff hat
Du liebst mich, du vertraust mir, doch
Schlag dir dein’n eignen Willen aus dem Kopf
Halt die Augen offen, nehm mich bei der Hand
Hier oben brauchst du Sauerstoff
Ja, ich zähl’ bis fünf (Ich zähl’ bis fünf)
Was sollte schiefgeh’n, wenn du fliegst, ich will, dass du springst
Du bist nicht wie all die andren Vögel, sie fall’n aus dem Wind, ja
Ich sehe tote Vogel
Die Vögel, ein Leitmotiv auf Mann beißt Hund.
MANN SKIT
Wieder dieser Soul-Song aus dem Radio. Der Vortrag über die Männlichkeit und dessen Aufgabe wird durch eine Polizeistreife je unterbrochen. Was sehr schade ist, befinden wir uns doch in einer Philosophie-Stunde: Also wenn Hund Mann beißt, sind wir Schuld. Und wenn Mann Hund beißt, dann auch, wisst ihr, was ich meine? Die Jungs befinden sich auf der Flucht.
SUPLEX
Wieder Sirenen und Schussimitationen, absichtlich ziemlich übertrieben vorgetragen. Hier wird abgezogen und eine Hymne über das Gangstertum abgelassen (Ein Leben lang (Ein Leben lang) / Chrom an meinem Kiefer, das’ ein Leben lang. Keemo nützt zudem diverse Fantasy-Charaktere, wie etwa Nico Robin aus One Piece (Du suchst Hände? Okay, cool, ich bin Nico Robin, Bitch) oder den Daimajin bzw. die Nazgul für seine Vergleiche. Der Beat hilft ihm bei seinem Vortrag, ein perfektes Brett für ein solches Unterfangen.
2009
Fast schon romantisch wird es in 2009, wo zu Beginn wieder diese Puah, puah, puah, puah, puah-Imitationen eines Gewehrs zu hören sind und man sich ertappt fühlt, dass als nächstes jemand Kungfu-Kenny hinterherschreit. Aber nein, Kendrick kommt nicht, Keemo hingegen blickt auf 2009 zurück, ein unbeschwertes Jahr. Der entspannte Beat hilft ihm dabei, die Bilder im Kopf werden angenehm warm, man kann den Sommer förmlich sehen. Das Grau weicht und macht Platz für bunte Felder.
Auch wenn er hier wieder davon ausgeht, dass er nicht älter als 30 Jahre werden wird, scheint er den Moment zu genießen. Dennoch trügerisch: Sein gewähltes Leben ist geprägt von Flucht und nicht erreichten Träumen (Sprang über Zäune, sie verfolgten mich, doch ohne Erfolg (Ja, ja) / Ich stand ‘ne halbe Stunde später auf dem Court in neuen Tretern / Ich hätte eigentlich Profi sein soll’n (Ey, Habibi), doch das ‘ne andre Story). Am Ende gönnt er sich noch eine gute Partie Schach mit seinem Vater. Mit strategischem Geschick scheint er sich ob seines Lebensstils auszukennen.
PETRICHOR
Sumpa schaut für ein paar Vocals vorbei und bringt ordentlich RnB mit. Der Sommer ist vorbei, die Blüten fallen von den Bäumen und Regen liegt in der Luft.
Wir hatten einen guten Sommer, doch du
Merkst nicht, wenn September ist
Ich geh’ heim, mach’ die Fenster dicht
Während du draußen hängst und mit
Händen gegen Wolken kämpfen willst
Man könnte meinen, Malik und Yasha (?) wissen nicht, wann es genug ist. Während Keemo einen anderen Lebensweg einschlug und seinem alten Leben bildlich das Fenster zuschlägt, wollen die anderen mit Händen gegen sichtbare Unsichtbarkeiten kämpfen. Der Struggle mit der Wolke.
Wo dein Kopf war, ist jetzt dichter Rauch
Draußen zieh’n Gewitter auf
Und trotzdem kommst du nicht ins Haus
Die Hand ist wund, Gesicht ist taub
Wolken hab’n dir deine Sicht geraubt
Trotzdem kommst du nicht ins Haus
Trotzdem kommst du nicht
Denn du merkst nicht, wenn September ist
Das viele Kiffen oder das Streben nach dem nächsten Geschäft kann den Verstand vernebeln. Auch wenn schon deutliche Abnützungserscheinungen auftreten und es mehrere deutliche Signale für ein Stopp der Aktivitäten gibt, wird nicht vom Weg abgegangen. Sie merken nicht, wann es an der Zeit ist, aufzuhören:
Ich seh’ dich, doch erkenn’ dich nicht
Und trotzdem kommst du nicht ins Haus, ja
Petrichor geht nahtlos in den nächsten Track über.
REGEN
Eine weitere Vorabsingle, die zudem auch bei COLORS aufgeführt wurde. Der Beat kann wahrlich Bilder eines Regentags erzeugen.
Wenn es regnet, regnet’s richtig
Ich sitz’ in der Küche nachts und zähle meinen Lichtblick
Sie lässt mich jeden Abend im Glauben, ich sei glücklich
Ich lass’ sie denken, dass ich’s nicht wüsste
Um es mit den Worten eines großen Sportphilosophen zu sagen: Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß. Keemo kann den einen Lichtblick immerhin noch sehen. Wer mit „sie“ gemeint ist, wird nicht klar. Dafür werden wir Zeuge eines Banküberfalls und treffen wieder auf Nina, seine Neunmillimeter, deren volles Magazin auf Ziele wartet (Die Nina ist schon seit Jahren schwanger mit Achtlingen / Und kann’s nicht erwarten, dass jeder von ihn’n sein’n Platz findet). Die Gier nach Geld kann nicht gestillt werden, auch wenn alles andere dafür geopfert werden muss:
Ich lach’ alleine und ich heul’ allein und jag’ allein den Euroschein
Ich bin nicht mal enttäuscht, ich bin ein Wolf, ich brauch’ kein’n Freundeskreis.
In Strophe zwei wird Keemo dann noch genauer:
Seit den letzten Jahr’n glaub’ ich nur an mich selbst
An diese Gun und an ‘ne Handvoll Geld
Ich bin der älteste junge Mann der Welt
Und es gibt nichts außer seiner Familie, was ihn irgendwie noch an ihr hält
Alles ist entspannt, solang er fällt
Im Fallen ist noch nichts passiert. Aber der Aufprall kommt unweigerlich, wenn man sich einmal in der Luft befindet. Natürlich kann man diese Zeilen wieder auf das Gangsterleben ummünzen – also besser aussteigen, wenn man sich noch nicht in der Luft befindet. Obwohl er gerade noch das Einzelgängertum beschworen hat, wird zugegeben, dass die Familie der einzige Grund ist, warum er noch auf dieser Welt weilt.
D’rag auf mei’m Kopf sitzt wie eine Krone, Nina ist mein Zepter
Ich trag’ kein Hermelin, sondern Kevlar
Lila hält mein Messer scharf, mein’n Tisch gedeckt und auch mein Bett warm
Doch jeden Tag noch weniger als gestern
Ich fühl’ mich wohl bei Regen, Sonnentage fühl’n sich fake an, wenn ich Pesos jag’
Der König der Hood tritt nicht wie ein klassischer Monarch in Erscheinung, sondern wie ein moderner Krieger: Durag – ein Kopftuch – eine Pistole und eine kugelsichere Weste. Geld sorgt dafür, dass er Leben kann. Der Lebensstil oder auch die Gier nach mehr, lassen das Erbeutete schwinden.
Ich schweig’ am Tag und red’ im Schlaf
Ho, ich jage schon mein Leben lang die Gegenwart, ich brauch’ nicht mal mein’n Mob zurück
Ich brauch’ nur ein Dach über dem Kopf…
Über kriminelles wird nicht gesprochen. Je weniger Leute informiert sind, desto weniger Gefahr gibt es aufzufliegen. Die spannendere Line ist aber die Zweite: Im Hier und Jetzt entspannt leben zu können, scheint nicht möglich zu sein. Dafür kann es logischerweise mehrere Gründe geben (Flucht, nächster Coup, usw).
SANDMANN
Es wird richtig hart, ein Beat mit Streichern und ordentlich gebounce. Wenn der Sandmann kommt, geht man schlafen – hier darf man vom ewigen Schlaf ausgehen. Die Punchlines fliegen nur so um die Ohren, mittendrin wird mit Keith Haring ein Pop-Art-Künstler genamedroppt. Seine Zeichnungen bestehen aus Konturen, wie die Leichenabdrücke die Polizisten an Tatorten nachzeichnen. Der Text ist unmissverständlich, viele Momente der Reue gibt es nicht (Wenn mich Gott nicht dabei stoppt, dann ist es nicht verkehrt, oh).
VÖGEL
Der längste Track mit 6:30 Minuten. Eine Tür geht auf, die Streicher kommen wieder, man scheint durch einen Hausgang zu gehen, der große Coup soll folgen – jemand soll sterben – der Protagonist soll sterben, indem er sich vom Dach stürzt oder sich ersticht. Der Protagonist erzählt während der Fahrstuhlfahrt von einem Bekannten, der schon in der Jugend Zeug vertickte. Die früheren Taten kommen ihm wieder in den Sinn:
Ich hab’ genossen, wie ich meinen Kopf mit jeder weiteren Missetat vergiftet hab’
Der Scheiß war witzig, bis er’s nicht mehr war
Ich kenn’ Jungs, die nicht gealtert sind, seit dem sie 17 war’n
Damit mein’ ich mental
Im Gegensatz zum Protagonist, hat der Jugendfreund den Absprung nicht geschafft:
Mein Bro ist 29, er hängt noch im Schützengraben ab, als wär er glücklich da
Und lebt nach Codes, die ihm sein Bro mal eingetrichtert hat
Dessen Geschichte alleine Grund genug ist, es nicht zu machen
Aber der Protagonist selbst war eben auch kein Kind von Traurigkeit. Er und seine Jungs wollten den Neuen in der Klasse abziehen, nur um festzustellen, dass er nichts von Wert dabeihatte. Zwar versuchten sie noch, den Überfall als Spaß abzutun – der Neue wechselte darauf hin aber schnell die Schule. Gewissensbisse bekam er deshalb keine, obwohl er es besser wissen müsste:
Ich war doch damals der, den die Kids nach der Sechsten pickten
Ich weiß, wie’s ist, sich zu fetzen wegen paar schlechten Witzen
Ich weiß, wie’s ist, sich verstecken zu müssen, weil du dich vor den dreckigen Blicken schämst
Wenn sie dich mit ‘ner leeren Kiste wartend vor der Theke der Tafel bei dir ums Eck erwischen
Und du willst Action, aber du musst deine Schwester schützen
Doch du würd’st am liebsten ein scheiß Messer zücken, wenn du könntest (Ach, verpiss dich, Mann)
Die Art von Hass trag’ ich bis heute in mir
Der Ausflug in die Vergangenheit wird abgebrochen, wir sind wieder in der Gegenwart. Der Protagonist spürt die Klinge in der Hand, er ist bald oben angekommen. Der Puls steigt und er erinnert sich an eine weitere Geschichte: Von einem Freund der mit dem Protagonist zusammen die Schule abbrach und später vom Ticker zum Junkie wurde und mittlerweile – durch diverse Psychosen – mit diversen Pillen halbwegs leben kann.
Der Protagonist rekapituliert sein Leben, ganz eindeutig:
Das Schlimmste ist, wahrscheinlich hatt’ ich eine Wahl
Ich war ein kluges Kind, mein Baba hat geprahlt
Und Mama sagt, ich wär begabt, denn ich hab’ gemalt
Jahre später häng’ ich draußen und verschwend’ mein Potential
Und tu’ Dinge, die eigentlich gegen jede Moral
Gehen, die mir Mama seit dem Babyalter mitgab
Und hätt sie damals alleine nur zehn Prozent erfahr’n
Hätt ich mit der Scham nicht leben könn’n, deshalb nehm’ ich’s mit ins Grab
Denn was weißt du von Verrat, Neid, Hass und den ganzen Sachen?
Von einer Freiheitsstrafe gebunkert im Handschuhfach?
Und Jungs, die dich in dunklen Anziehsachen grundlos jumpen?
Sag, was weißt du von die ganze Nacht nicht schlafen wegen Angstattacken?
Von Söhnen, die ihre Zukunft nur für paar Gramm verkacken?
Von Vätern, die vor zwanzig Jahren jung ihr Land verlassen haben
In der Hoffnung, dass wir Karriere als Anwalt machen
Während wir in Handschuhen und Masken jede Nacht Panzer knacken
Shit, es tut mir Leid, verdammt
Der Lift kommt gleich an, die Fahrt geht gleich zu Ende. Eine weitere Episode folgt, der Protagonist erzählt von seiner Depression und seinen Angstattacken, aber auch von einer (wohl tödlichen) Messerstecherei, bei der ein Student von einem seiner Freunde attackiert wurde. Nach diesem Überfall wollte der Protagonist sich von seinem Leben distanzieren, nur um wenige Tage wieder im Stiegenhaus mit seinen Jungs zu hängen.
Stockwerk neun ist erreicht, die letzten Treppen bis zum Dach müssen zu Fuß bewältigt werden.
Das ist also die Siedlung, wie Gott sie sieht
Ich steh’ auf dem Kopf des Riesens und triumphiere mit wunden Händen, am Ende hab’ ich ihn doch besiegt
Jetzt kann mir egal sein, ob der Block mich liebt
Denn ich spür’ oft nicht mal Nostalgie
Er hat mit seinem Leben abgeschlossen, die Beziehungen zu seinen alten Freunden sind ihm egal. Der Protagonist hofft auf Wiedergeburt, auf ein anderes, besseres Leben.
Mein Kopf und mein Körper sind nicht kooperativ
Der Koloss fordert wieder ein Opfer, das heißt, ich flieg’
Oder falle kopfüber und dropp’ zehn Stockwerke tief
Vielleicht komm’ ich wieder, vielleicht in Form eines Briefs
Adressiert an ‘ne Mutter, deren Jobzusage ihren Sohn nicht mit Ot ticken ließ
Vielleicht komm’ ich auch wieder mit Flügeln oder Gefieder
Als Leader, als großer Bruder, der dir sagt: „Fass das Zeug nie an!“
Der Plan B, die Klinge bleibt bei ihm. Sie gibt ihm auch jetzt noch Sicherheit, auch wenn er draufkommt, dass er sie nicht benötigt. Bis er fällt.
Vielleicht hat’s irgendein’n Grund, aus dem du lieber zuhause bleibst
Statt draußen Streit zu suchen oder in ein Haus zu steigen
Ich brauche keine Klinge, ich brauch’ eine Stimme
Ich flieg’ hoch, sterb’ und falle aus dem—
Wie man sich selbst zusammenreimen kann, handelt es sich beim Protagonisten um Yasha.
ZILLER
Gianni Suave hilft bei der Hook aus, alles hier ist sehr entspannt und definitiv auch international. Keemo und Franky orientieren sich stark an Stilmitteln von Kendrick oder J. Cole, zumindest lässt der Sound den Vergleich vermuten. Flowtechnisch wohl einer der besten Songs des Albums, Keemo puncht und flext über das Gangsterleben, erklärt, dass Geld keine Rolle spielt und er jede Kaution bezahlen kann. Nach dem Wahnsinn von Vögel tut Ziller sehr gut.
TÖLE
Malik ist wieder zurück und regt sich fürchterlich darüber auf, welchen Weg Keemo eingeschlagen hat. Von der Siedlung zu rappen ohne darin zu leben – mehr outsell geht nicht. Die Realness ist verschwunden, die Wege von Malik und Keemo haben sich getrennt. Knapp sechs Minuten dauert die Abrechnung, davon darf das Instrumental allein eine Minute verschlingen. Dabei wählt Franky nicht den aggressiven Weg, sondern den ruhigeren, fast minimalistischen, jedenfalls jazzigen, damit Keemo seine Lines auch gut verständlich bringen kann. Malik bestätigt hier auch Yashas Tod:
Wehe du droppst noch mal in ei’m Song diese Postleitzahl
Der Scheiß war nie optional
Du bist hier aufgewachsen, du hast uns in dei’m Blut
Und wagst es in ‘nem Interlude über Yasha zu reden
Pussy, ich hoffe, sein Tod tat wenigstens dei’m Image gut
Vögel fliegen, doch gehör’n nie in die Booth
Die Treue zur Hood steht über allem. Malik droppt zudem sehr Persönliches, wenn er etwa über Keemos an Krebs verstorbener Mutter spricht. Identitätsfragen bestimmen seinen Text:
Aber wer bist du, my N****? Ich glaub’, dass du’s selber nicht weißt
Ob Wassergott, Otello oder Geist, du bleibst im Rudel, N****
Ich wünscht, ich könnt dir sagen, ich gönn’ dir den Hype
Aber eigentlich ständen wir hier zu zweit
Bei all der Abneigung die Malik Keemo den Großteil des Songs gegenüber hegt, lenkt er schließlich ein und bittet seinen alten Freund, wieder nach Hause zu kommen. Allein würde er es in der Platte nicht mehr schaffen (Mich hält nix an diesen Bauten, aber ich schaff’s nicht mehr raus, seitdem du damals weggelaufen bist).
Piano, Bläser, Schlagzeug, Percussion – der Beat transportiert die Botschaft und sorgt für die perfekte Stimmung.
BLANKO
Noch nie hat ein Track über ein sieben Euro blanko-Shirt besser geklungen. Kwam.E macht mit einer Strophe mit, die allgemeine Atmosphäre wird wieder düsterer. Ein Hype-Track mit Geflexe, eine weitere Vorabsingle, die man unter Umständen sogar losgelöst vom Album hören kann. Absoluter Banger.
ENDE
Zum Abschluss gibt’s noch mal Realtalk. Keemo spricht über die Albumabgabe, über die Entstehung des Albums, die Verschiebungen, den Stress der damit verbunden war. Wieder ganz entspannter Beat, perfekt gemacht für den Abspann des Films, der uns knapp eine Stunde unterhalten hat. Keemo empört sich über einen Vince Carter-Vergleich, will sich lieber in Kobe-Form sehen und steht nicht hinter dem Kendrick-Vergleich. Dann Break und vermutlich Wiedersehen mit Malik. Fast schon versöhnlich und wohltuend, nach diesem Auf und Ab. Ein weiterer Beweis dafür, dass Keemo mit genügend Zeit (5:26 Minuten) noch feiner flowen und storytellen kann, als sonst schon.
REVIEW
Wiederkehrende Themen
Tote Vögel: Die toten Vögel oder Vögel im Allgemeinen begleiten uns durch das gesamte Album. Dabei kann man das Bild in verschiedene Art und Weise deuten: Während einer der Protagonisten dem Flug in die Unendlichkeit nachsehnt (Vertigo, Vögel), dürfte mit den Vögeln auch eine generelle Metapher gemeint sein. Jeder Mensch hat die Möglichkeiten zu fliegen, also – im klassischen Sinn – etwas aus seinem Leben zu machen, mit dem man Freude findet. Die toten Vögel sind jene die vom Himmel fallen, weil sie falsch abgebogen sind oder bewusst den Sturzflug wählen. Malik hat zudem die Tendenz das Vogelsterben auf äußere Umstände abzuwälzen (Satelliten) und sich Verschwörungstheorien hinzugeben. Keemo wiederum hat genug Talente um aus dem Gewaltkreis ausbrechen zu können, sieht aber lange Zeit die Möglichkeiten nicht.
Sängerinnen die singen
Alicia Keys (Suplex), Amy Winehouse (2009) oder Celine Dion (Sandmann) singen – genauso wie verfeindete Jungs von Keemo, Malik und Yasha bei der Polizei. Ein Stilmittel, dass Keemo durchs gesamte Album zieht. Wie auch zahlreiche popkulturelle Figuren bzw. Anime-Charaktere.
Hunde
Bleiben noch die Hunde:
- Wir leben in ‘ner Welt voller Hunde, diese ganze Welt ist voller Hunde (Hund Skit)
- Die Welt geht vor die Hunde; Die Welt ist voller Hunde (Suplex)
- Ich leb’ in ‘ner Welt voll Hunde, was will ich mehr? Oh (Sandmann)
- Der Mob ist tot, die Welt geht vor die Hunde; Ja, wie kommst du zurecht in der Welt voller Hunde (Ende)
Der Albumtitel wurde schon auf Geist in 55 (Interlude) erwähnt: Mann beißt Hund, wo ich herkomm
FAZIT
OG Keemo schafft auf Mann beißt Hund etwas, was man im deutschsprachigen Raum so wohl noch nie gehört hat: Ein Konzeptalbum aus der Sicht von mehreren Protagonisten, eine Disziplin, die nur ganz wenige Rapper erfolgreich umsetzen können. J. Cole hat mit 4 Your Eyez Only vorgelegt, Keemo schafft es, in diese Fußstapfen zu treten – ob er möchte oder nicht. Wenn man ganz genau sein will, wird man dieses Album mit Kendricks good kid m.a.a.d city vergleichen – und das ist auch gut so.
Das Storytelling ist vom allerfeinsten, die Produktion gewohnt hochklassig, die Ansätze und Umsetzung der Storys fantastisch, Keemos Rap makellos. Ein Album, dass man hören muss – im Ganzen und ohne Abstriche. Ein Werk, das diese Bezeichnung auch verdient. Eine Platte, die das Vorgängeralbum noch toppt und OG Keemo endgültig zum besten deutschen Lyriker manifestiert. Wir haben lange warten müssen, aber jede einzelne Sekunde hat sich ausgezahlt. Mann beißt Hund bekommt den perfekten Score.
10/10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.