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Genre: Pop & mehr
Sieben lange Jahre hat sich Raye gedulden müssen, um endlich ihr Debütalbum auf den Markt bringen zu können. Obwohl mit einem Vertrag über vier Studioalben bei einem Major-Plattenlabel ausgestattet, war es ihr nicht möglich, ihre Musik zu veröffentlichen. Jetzt, als unabhängige Künstlerin, ist das Erstlingswerk endlich da: My 21st Century Blues
Darauf behandelt sie sehr persönliche Themen, singt über ihre Drogensucht, Unsicherheiten, sexuellen Missbrauch – auch im Zusammenhang mit der Musikszene – und ihre Probleme mit der eigenen Körperwahrnehmung. Für die Produktion hat sich Raye auf sich selbst verlassen, sich aber auch die Dienste von Mike Sabath (Lizzo, Megan Trainor, Selena Gomez, Liam Payne), BloodPop (Lady Gaga, Britney Spears, Justin Bieber) oder Di Genuis (Drake, Shakira, Nelly Furtado) sichern können. Also ziemliche Schwergewichte der Pop-Welt.
Rayes Sound lässt sich trotz dieser großen Pop-Produzenten nicht in eine Schublade packen. My 21st Century Blues kann nahezu jedes große Genre vorweisen, hat Jazz, Hip-Hop, Funk, Soul, Blues, Gospel oder gar House und Dance Hall im Angebot. 13 Songs exklusive eines Intros und eines Outros sind zusammengekommen, knapp 47 Minuten dauert Rayes Debüt-Blues.
BACKGROUND
Raye ist mittlerweile 25 Jahre alt – oder besser gesagt – immer noch jung. Vor neun Jahren erschien ihre erste EP und eine frühe, vielversprechende Karriere schien in den Startlöchern zu stehen. Ein Vertrag beim Plattenlabel Polydor über insgesamt vier Alben folgte und die ersten Singles wurden veröffentlicht, die sich regelmäßig in den Top 20 der britischen Charts platzieren konnten. Raye arbeitete anschließend mit Beyoncé, Charli XCX, Mabel, David Guetta oder John Legend zusammen bzw. schrieb einige Songs für die genannten Künstler. Von ihrem Label wurde sie bezüglich eines eigenen Albums stets vertröstet, die Zeit sei noch nicht reif und Raye als Feature-Gast besser aufgehoben. Vier Nominierungen bei den BRIT Awards können letztere These zumindest ein klein wenig bestätigen.
Es kommt immer wieder vor, dass Künstlerinnen und Künstler sich mit der Plattenfirma zoffen – auch öffentlich, wie Megan Thee Stallion oder SZA bzw. Charli XCX erst jüngst unter Beweis stellten. Dass eine Musikerin aber so dermaßen lange auf die sehr lange Bank geschoben wird, ist durchaus einzigartig. So als ob es keinen Platz mehr für Raye im großen britischen Pop-Pulk mehr gegeben hätte, musste sie sich mit der Zuschauerrolle begnügen, die nur alle paar Monate zum ein oder anderen Gastbeitrag gerufen wurde.
Aber kampflos aufgeben wollte Raye nicht: Sie veröffentlichte 2020 in Eigenregie ihr Mini-Album Euphoric Sad Songs, das gute Streamingzahlen vorweisen konnte, Polydor aber nicht überzeugte, die Arbeiten am heißersehnten Debütalbum aufzunehmen. 2021 reichte es der Britin schließlich, sie machte ihrem Ärger auf Twitter Luft und konnte sich mit Polydor über eine Vertragsauflösung einigen. Als freie Musikerin startete sie im vergangenen Jahr mit den Singles Hard Out Here und Black Mascara ihren Rollout zu My 21st Century Blues. Den bis dato größten Solo-Erfolg feierte Raye mit der im Oktober 2022 erschienen Single Escapism, die sich Anfang 2023 auf Platz 1 der britischen Singlecharts platzieren konnte.
Review
Man kann auch verstehen, warum Escapism so ein großer Erfolg wurde. Sehr ansteckender Beat, der auch vom Klavier getragen wird, viel mehr aber noch ein schonungslos offener Text von Raye. Sie beschreibt ihre Drogensucht, die Teufelsspirale, die nur schwer durchbrochen werden kann. Take this pain away. Viereinhalb Minuten geht diese Reise durch Rayes Struggles, bei der auch noch die US-amerikanische Sängerin 070 Shake mit dabei ist. Dieser Song ist ein komplettes Brett, verzerrt sich gegen Ende hin selbst in seiner besten Form.
Bevor es zu dieser Eskapade kommt, heißt uns Raye aber noch herzlich willkommen. Oscar Winning Tears zeigt ihre stimmlichen Stärken, orientiert sich an den großen RnB-Nummern, erinnert aber auch an H.E.R. Raye erzählt von einem Streit mit ihrem Freund, der ihren Freund schließlich auch zum Weinen bringt. Raye durchschaut das Schauspiel und lehnt sich zurück, beobachtet das Spektakel und verlässt ihn schließlich. Fein umgesetzt.
Hard Out Here lässt sie in der Strophe rappen, hat einen fein dezenten Beat, vor allem aber auch einen harmonischen Refrain. Rayes Ärger über die Musikindustrie wird hier deutlich All the white men CEO’s fuck your privilege. Black Mascara kommt mit Club-Beats daher, die Raye sehr gutstehen. Da wird zwar nicht sonderlich groß experimentiert, man kann sich aber gut in den Song fallen lassen.
Einer der bedrückendsten, aber auch stärksten Tracks des Albums ist Ice Cream Man, auf dem Raye sexuellen Missbrauch thematisiert, der ihr widerfahren ist. Sie geht es gemächlich an, legt den Fokus stark auf den Text, sodass man auch zuhören kann, ohne abgelenkt zu werden. Zum Refrain zeigt sie ihre voluminöse Stimme. Das Instrumental des Lieds präsentiert sich viel freundlicher, als der Text es eigentlich zulässt. Wunderbar umgesetzt.
Das soulig-bluesige Mary Jane handelt von ihrer Marihuana und Codein-Sucht. Raye nimmt den Gospel mit im Refrain, lässt der auffälligen Gitarre später im Song noch von einem Schlagzeug und von Streichern Unterstützung zukommen. Sie klingt in Phasen wie Amy Winehouse. The Thrill is gone hat denselben Titel wie B.B.Kings Klassiker und bläst inhaltlich ins selbe Horn wie Mary Jane, handelt aber auch von zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Blues übernimmt Raye komplett, man kann sich hier leicht verlieren.
Flip a Switch fällt durch die Mischung aus Rap und RnB auf, die von Raye mit wuchtigen Harmonien aufgeladen wird. Body Dysmorphia nimmt das Thema wortwörtlich, die Instrumente simulieren eine Verzerrung, der sich auch Raye melodiös anschließt. Wie sehr der Planet zerstört wird oder schon zerstört wurde, behandelt Environmental Anxiety. Hier gleitet sie durch ein sehr üppig angelegtes Arrangement, das vor allem durch den nach vorne gerichteten Beat auffällt.
Ihre beste SZA-Imitation gibt Raye in Five Star Hotels von sich. Hier wird’s sexy, hier geht’s auch um Sex. Laidback, wenig auffällig, klassischer RnB. Generell scheint das Album zum Schluss noch auf Euphorie-Momente zu setzen, Worth It und Buss It Down sind die fröhlichsten und leichtesten Tracks der Platte, die mit ein bisschen Funk auftrumpfen können. Das Tanzbein darf geschwungen werden, vor allem Worth It bietet sich dazu an. Außerdem kann man hören, dass Raye schon für Beyoncé geschrieben hat. Buss It Down vertraut auf Klavier und Chöre während Raye Frieden mit sich und ihrer Vergangenheit schließen will. Das gelingt ihr auch, sehr schöne, große Gospel-Ballade.
FAZIT
Raye hat sich auf My 21st Century Blues sehr viel von der Seele schreiben können, das hört und merkt man. Ihr Sound ist variabel, wenn er auch eine gewisse Stringenz vermissen lässt. Aber bei einer Wartezeit von neun Jahren verwundert es wenig, dass sie verschiedenste Stile noch einmal präsentieren möchte. My 21st Century Blues ist ein Album zum Genießen, auch wenn die Themen nicht zur leichtesten Kost zählen. Bisschen mehr musikalischer roter Faden und Raye wird endgültig die langen Schatten ihrer Vergangenheit abwerfen können.
7,8/10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.