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LANA DEL REY – DID YOU KNOW THAT THERE’S A TUNNEL UNDER OCEAN BLVD

© POLYDOR RECORDS

Genre: Alternative Pop

Es ist Frühling und damit auch wieder einmal Zeit, sich in nostalgischer und erbarmungsloser Poesie mit Lana del Rey zu baden. Ihr neuntes Studioalbum ist ein langer Trip durch die USA, mit Zwischenstops bei Familie, dem Ex-Freund und schlussendlich auch dem Tod.

77 Minuten sind eine lange Zeit und ein doppelter Mittelfinger für den musikmarktdominierenden Spotify-Algorithmus. Lana del Rey, die schon seit ihrem Durchbruch im Jahr 2012 mit Authentizitätsvorwürfen konfrontiert wird, bleibt sich einmal mehr treu und zieht ihr Ding einfach durch. So dauert Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd, ihr neuntes Studioalbum, eben 77 Minuten lang. Das kann zunächst abschrecken, wird im Laufe des Hördurchgangs aber zur Nebensächlichkeit.

Denn Lana zieht uns rasch in einen Bann, dem man nicht mehr entkommt. Dieses Album hat eine ganz eigene, nur schwer definierbare Stimmung: Wehmut, ja klar, große Ästhetik sowieso. Ihre Texte sind wie immer schonungslos ehrlich, sie verbirgt wenig bis nichts, schafft es aber trotzdem, dass man sich nicht immer sicher sein kann, wie sie diese oder jene Anekdote meint – ob sie überhaupt stattgefunden hat. Lana del Rey muss sich neben Fragen zu ihrer Person, zu ihrem Charakter auch immer wieder den Vorwurf der Langweile gefallen lassen. Und ja, Blue Bannister, der Vorgänger zu diesem Album, war mitunter schon ziemlich träge. Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd hingegen fühlt sich frischer an, hält die Stimmung aufrecht und bietet gar das ein oder andere Experiment in Bezug auf den del-reyschen-Kosmos.

Jack Antonoff, der so oft gescholtene, weil immer sehr ähnlich abmischende und komponierende Produzent, ist natürlich wieder mit dabei und bestätigt, was schon alle wissen: Lana del Rey und er sind ein Match made in heaven. Zu keiner Künstlerin passt sein Zugang zur Musik besser als zu ihr und umgekehrt gibt ihm wohl auch niemand anderes solche Texte und Melodien. Die beiden sind eng befreundet, was man auch in ihrem Sound hören kann. Lana hat ihm gar einen Song für seine Lebensgefährtin Margaret Qualley geschrieben, den sie zusammen mit Antonoffs Band Bleachers auf das Album gepackt hat. Hier wird die Liebe großgeschrieben und man bekommt auch einen Eindruck davon, wie nahe sich del Rey und Antonoff stehen.

Wenn man also in der wunderbaren Situation ist, dass Lana einen mag, dann kann man viele schöne Dinge erwarten. Wenn man es sich mit ihr aber verscherzt, dann kann es ziemlich bitter werden. Das zeigt nur ein Blick auf die Promotion dieses Albums: Lana hat kein Musikvideo aufgenommen, keine neuartigen TikTok-Challenges oder ähnliches ausgerufen, sondern auf ein einziges, ultraklassisches Werbemittel zurückgegriffen: Ein Plakat. Ein überdimensionales Plakat mit Coverfoto und Albumtitel – aufgestellt in Tulsa, Oklahoma. Warum gerade dort? Weil hier ihr Ex-Freund, ein Polizist wohnt. „It’s personal“, ließ sie ausrichten. Dass sie das Album und den Titeltrack ausgerechnet am 7. Dezember, dem Geburtstag des Ex-Freunds, veröffentlichte, macht die Sache noch brisanter.

Man könnte vermuten, Lana wäre auf Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd in irgendeiner Form aggressiv – ist sie aber nicht. Im Gegenteil. Sie besinnt sich auf ihre typischen Merkmale, stellt ein Klavier ins Zentrum ihrer Musik das von ihren langen Gedichten umgarnt wird.

Die Familie ist eines der zentralen Themen dieses Albums. Schon der Opener The Grants ist nach ihrem Familiennamen benannt und startet mit einem wunderbaren a capella Gospelchor, ehe Lana viele Erinnerungen ihrer Familie mit uns teilt und auch dem Tod eine versöhnliche Anmutung geben kann. And I’m gonna take mine of you with me singt sie im Refrain, die Erinnerungen werden auch nach dem Tod nicht erlöschen. Eine sehr berührende und stimmungsvolle Ballade zum Start, mit Streichern und Chören, mit Klavier und wunderbarer Intonation von Lana.

Diese Themen begegnen uns immer wieder: Kintsugi behandelt das Ableben von einigen Familienmitgliedern und ihren Trauerprozess. Fingertips thematisiert den Suizid ihres Onkels und offenbart einen eigenen Selbstmordversuch im Teenage-Alter. Sehr berührend und detailliert erzählt Lana diese tragischen Ereignisse, lässt sich dafür auch ordentlich Zeit: Sowohl Kintsugi als auch Fingertips dauern knapp sechs Minuten, kreieren eine eigene Dynamik. Sie findet Trost und Hoffnung, schafft es, mit ihrem Kummer umzugehen und selbstsicher und positiv in die Zukunft zu blicken. Beide Stücke präsentieren enorm viel Text, der auch der große Star der Stücke ist. Die Musik wird zur vermeintlichen Nebensache, die orchestralen Parts untermauern ihre Anliegen aber auf die beste Art und Weise, wodurch wir eben wieder bei dieser schwer definierbaren Grundstimmung wären.

Vermutlich findet man auf Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blvd auch den besten Track in Lana del Reys Diskografie: A&W. Sieben Minuten mit hoher Pace von Beginn an, mit fantastischer Entwicklung, einer stetigen Bewegung, angeführt vom akzentuierten Klavier. Lana teilt den Song in zwei Teile auf, bringt viel Autobiografisches mit, erzählt von ihrer unschuldigen Kindheit, ihren wilden Jahren als sexsüchtige Frau und Drogensucht. Dabei spricht sie auch darüber, dass Frauen immer noch viel zu selten geglaubt wird, wenn sie sagen, dass sie vergewaltigt wurden. Der Track ändert sein Klangbild radikal, wechselt vom klavierlastigen Stück zu einem sehr elektronischen Trip, indem sich Lana schön ausbreitet. Sie interpoliert Shimmy Shimmy KO KO Bop, schafft so noch größeres Vertrauen in einem ohnehin schon sehr wohligen Umfeld. Dieser Track ist nichts weniger als perfekt, zumal er immer wieder Zerstörung anteasert, sich schlussendlich aber doch zum Verweilen entscheidet.

Dem Piano wird, wie schon gesagt, eine sehr große Rolle zugewiesen: Paris, Texas folgt dem Stück I Wanted to Leave von SYML, wodurch dieser sich auch als Gast auf dem Album verewigen darf. Der Track ist wunderbar leicht, spielt geschickt mit berühmten Orten, die in Lanas Beschreibung aber in ganz anderen Hemisphären liegen. Jon Batiste, der große Jazz-Pianist, schaut auch vorbei, kreiert mit Lana das impulsive und mächtige Candy Necklace. Jon treibt Lana an, auch hier will man sich ausbreiten. Father John Misty nimmt seine Gitarre auf Let the Light In mit und man kann nicht anders, als sich sofort in die tragische Liebesgeschichte zu verlieben. Das Lied bildet eine willkommene Abwechslung, lockert sehr viel auf. Streicher, Gitarre, ein sehr angenehmes Ambiente im Allgemeinen.

Gegen Ende wird noch ein bisschen experimentiert: Peppers, das zusammen mit Tommy Genesis aufgenommen wurde, nimmt auch Bezug auf Angelina vom 2015 erschienen Album World Vision der Rapperin. Der Mix aus beiden Welten gelingt, Lana kann auch bei schnelleren Rhythmen überzeugen, was ohnehin klar, nur schon lange nicht mehr unter Beweis gestellt wurde.

Der Closer Taco Truck x VB wird in zwei Teile aufgespalten und zeigt eine neue, noch nicht gehörte Version von Lanas Song Venice Bitch. Düsterer, grantiger – richtig gelungen.

Aber da wäre ja noch die Sache mit dem Tunnel unter dem Ocean Boulevard. Lana bezieht sich auf den versperrten Jergins Tunnel in Long Beach. Der Song ist von Don’t Forget Me von Harry Nilsson von 1974 beeinflusst, sie spricht von Einsamkeit und geringem Selbstwert: When’s it gonna be my turn? / Open me up, tell me you like it / Fuck me to death, love me until I love myself. Ein großer Song, diesmal mit Lanas Gesang im Zentrum und Streichern und Echos um sie herum.

Did you know that there’s a Tunnel under Ocean Blv kann ob seiner monströsen Größe abschrecken, kann aber jegliche Zweifel sehr rasch im Keim ersticken. Dieses Album zählt zu den Besten einer der interessantesten Künstlerinnen unserer Zeit. Sie mag nicht für Überraschungen sorgen, zeigt aber auch, dass sie mehr als eine sagenumwobene Person mit den immer gleichen Klangmustern ist. Vielleicht ist die gesuchte Stimmung schlussendlich doch mit einem Wort zu beschreiben: zauberhaft.

8,4/10