© Interscope Records
Genre: Alternative
Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus sind wieder eine Band. Die größte Supergroup unserer Zeit zelebriert auf The Record ihre einzigartige Freundschaft auf besonders schöne und harmonische Art und Weise.
BACKGROUND ZU boygenius
Sie sind in den vergangenen fünf Jahren nahezu in jedem Einzelinterview danach befragt worden: „Wie schaut’s mit boygenius aus?“. Jede der Künstlerinnen hatte eine eigene Antwort dafür parat. Phoebe Bridgers meinte: „Mal sehen, ob es jemals wieder klappt.“ Julien Baker verschob die Reunion auf „einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft“. Und Lucy Dacus antwortete knapp und lässig: „Schön wär’s“.
Es verwundert nicht, dass die Nachfrage nach neuem boygenius-Material ständig und unabhängig vom Erfolg der einzelnen Musikerinnen erfolgte. Die kleine, 2018 erschienene EP Boygenius begeisterte sowohl Fans als auch Kritiker. Baker, Bridgers und Dacus passen perfekt zusammen, ergänzen sich in ihren musikalischen Vorstellungen und stehen an der Spitze der neuen Singer-Songwriterinnen-Generation. Die drei lernten sich zufällig kennen, spielten auf derselben Tour und wurden ziemlich beste Freundinnen. Was aus Jux und Tollerei als einmalige und nur ein Lied umfassende Sache begann, endete zunächst in der sechs Tracks umfassenden EP samt Tour. Dann war’s fürs erste schon vorbei und jede zog wieder in die eigene Richtung. Bridgers gelang der Durchbruch mit Punisher, Baker als auch Dacus konnten 2021 ebenfalls sehr starke und introspektive Alben nachlegen. So ganz aus den Augen verloren sie sich natürlich nie – was man auch in der Öffentlichkeit mitbekam, da immer wieder Gastbeiträge auf den jeweiligen Alben zu finden waren.
Aber nichts offizielles als boygenius. Dafür brauchte es schon eine Pandemie und die Sehnsucht nach Freundschaft und dem gemeinsamen Musizieren. Phoebe ergriff die Initiative und fragte im Whatsapp-Gruppenchat: „Können wir wieder eine Band sein?“. Lange zögerten die anderen beiden nicht, Baker richtete einen Ordner auf Google Drive ein und los ging das neue Abenteuer. Als sich die Lage rund um das Corona-Virus ein wenig entspannte, brachen sie zu zwei Schreibreisen um April und August 2021 auf. Im Januar 2022 mieteten sie sich in Rick Rubins Shangri-La-Studio ein und holten sich namhafte Studiomusiker an Bord sowie mit Catherine Marks eine Co-Produzentin, die sich vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit PJ Harvey, Foals, Wolfe Alice und dem Manchester Orchestra einen Namen machen konnte. Illuminati Hotties Frontfrau Sarah Tudzin stieß noch wenig später dazu.
REVIEW – boygenius – the record
Ungefähr 25 Songs wurden aufgenommen, zwölf schafften es auf The Record. Boygenius spielen seit jeher mit dem Klischee der Supergroup, stellten für die selbstbetitelte EP das legendäre Cover von Crosby, Stills & Nash nach und wollten mit dem Albumtitel in eine ähnliche Kerbe schlagen: American Idiot oder The White Album standen lange zur Debatte, auch In Rainbows hatte es den dreien angetan – was sie aber selbst als zu „gay“ empfanden. Also The Record. Und wie üblich war es vor allem Julien Baker, die für den Großteil der Songskizzen zuständig war. Weil es noch nicht erwähnt, vermutlich aber schon bemerkt wurde: Boygenius ist keine normale Band. Die Demokratie innerhalb der Gruppe scheint sich natürlich und ungezwungen zu entfalten, jede Musikerin darf sich den Raum nehmen, den sie möchte. Keine verzichtet auf den individuellen Stil, sondern schreibt so, dass auch die anderen Bandmitglieder noch Platz finden. Die charakteristischen Merkmale einer jeden Sängerin werden nicht geopfert, sondern auf neue Höhen gebracht.
Dieses Album handelt von Freundschaft und Liebe, von Angst und dem Tod, von Depression und mentalen Herausforderungen, von Zweifeln und Hoffnung – kurz, vom Leben. Das Naheverhältnis zwischen Baker, Bridgers und Dacus ist in den 42 Minuten ständig spür- und erlebbar und wird durch ihre Musik transportiert. Der Opener Without You Without Them zeigt das sofort, wenn sie in knapp eineinhalb Minuten in wunderbaren Harmonien a capella über ihre Ahnen und ihre zwischenmenschliche Beziehung singen. Einen anderen Einstieg hätte man ins Album auch nicht erwarten dürfen. Die Ruhe des Openers täuscht, wenig später darf in 20$ schon die bakerübliche Gitarre übernehmen und ein leichtes pop-punk-Riff erklingen. Julien übernimmt den Lead, Phoebe und Lucy unterstützen sie im Hintergrund. Run out of gas, out of time, out of money / You’re doing what you can, just makin’ it run heißt es am Ende, also man versucht das Werk – das Leben – irgendwie am Laufen zu halten. Hier wird massive Spannung aufgebaut, vor allem auch durch Phoebes ständige Frage nach 20 Dollar, die schlussendlich auch mit einem – mittlerweile fast schon obligatorischen – Schrei von Bridgers endet. Eine Ekstase zum Beginn und eine Erinnerung, dass die drei einfach perfekt zueinander passen. Der Stimmungsbogen dieses Songs lässt keine Wünsche mehr übrig.
Dass Phoebe Bridgers Emily I’m Sorry unmittelbar nach den Aufnahen zu ihrem Erfolgsalbum Punisher geschrieben hat, ist unüberhörbar. Die ruhige Gitarre, die verträumte Stimmung und Phoebes Gesang erinnern an einige Stücke von Punisher. Laut Bridgers war dieser Track der Grund für ihre Reunions-Frage an ihre Kolleginnen. Sie sing hier von ihrer Ex-Freundin Emily Bannon, die sie um Verzeihung bittet. Man kennt die Harmonien schon, man weiß wie Baker, Bridgers und Dacus zusammenklingen – und ist trotzdem jedes Mal wie in einen Bann gezogen. Alle drei sind herausragende Songschreiberinnen, Phoebe schafft es hier auch wieder ziemlich ikonische, ganz einfach eindeutige Lyrics zum Besten zu geben: I’m twenty-seven and I don’t know who I am (Don’t know who I am) / But I know what I want.
Im demokratischen Sinn ist nach Julien und Phoebe jetzt Lucy mit einer Solo-Nummer an der Reihe. True Blue setzt Dacus‘ Arbeit ihres Albums Home Video fort und behandelt schon bekannte Themen: Erwachsenwerden mit allen Hürden und Hindernissen, Vertrauen und Liebe. Lucys Tracks sind meistens die ruhigsten, vielleicht wolkigsten, aber trotzdem treffsicher. Hier kann man sich davon überzeugen was es heißt, wenn sie And it feels good to be known so well / I can’t hide from you like I hide from myself singen.
Boygenius feiern ihre Freundschaft
Eine zerlegte Gitarre, die sich auf Simon & Garfunkels The Boxer beruft, eröffnet Cool About It und damit auch das erste Lied, das zu gleichgroßen Stücken von den Musikerinnen besungen wird. Sie nehmen sich dem Beziehungsthema an, treffen vermutlich Ex-Geliebte und reflektieren, was schiefgelaufen ist. Julien eröffnet diesen herrlichen Track, in dessen Melodie sich man ganz einfach und leicht verlieren kann. Wieder sticht der Spannungsbogen hervor, geschickt wechseln sie sich ab und bauen verschiedene Stimmungen auf. Drei Minuten, denen man eine Verletzlichkeit unterstellen könnte, die in Wahrheit nicht vorhanden ist. Einziges Manko des Songs ist das abrupte Ende – ein bisschen mehr Raum hätte nicht geschadet.
Eine Ode an die Freundschaft ist immer eine gute Sache. Wer sehen möchte, wie gern sich die Mitglieder von Boygenuis haben, muss sich nur das Musikvideo zu Not Strong Enough ansehen. Musikalisch ist dieser Song, der vermutlich sicherste den boygenius jemals geschrieben hat – aber gleichzeitig auch einer der ansteckendsten und wunderbarsten. Von Sekunde eins an ist man mitten im Geschehen und mit ihnen im Selbsthass und dem Gottkomplex gefangen. Es sind diese Songs, die Betroffenen Mut machen und so bezeichnend für das Schaffen von Baker, Bridgers und Dacus sind. Durch die herausragende Umsetzung, die Harmonien, kurzen Breaks, den Stimmungswechsel und den hohen Drive, verzeiht man ihnen ihren musikalischen Sicherheitsgurt und stellt schlussendlich einfach fest, dass dieser Song einfach perfekt ist.
Wie schon Emily, I’m Sorry hätte Revolution 0 auch auf Punisher Platz finden können. Phoebe erfindet ihr Rad nicht neu sondern beruft sich auf ihre Stärken – sprich Gitarre und Songwriting: I don’t wanna die, that’s a lie / But I’m afraid to get sick. Ein sehr ruhiges Stück mit vielen Chören und Streichern, perfekt für elegische Ausflüge. Gerade als man denkt, der Song endet, kommen die Streicher noch einmal zurück. In den viereinhalb Minuten passiert etwas, wenn auch der letzte Punsh ausbleibt.
Phoebes Leidenschaft für Songs ohne Refrain brachte uns den von Lucy vorgetragenen kurzen Song Leonard Cohen ein. In etwas mehr als eineinhalb Minuten kann Lucy den Kreis aus Bandanekdoten und Leonard Cohen-Zitaten schließen, was auch gleichzeitig das Highlight des Lieds darstellt: Der Text ist auf dem Punkt und bedarf keiner weiteren Erklärung. Den Rest erledigt ein einfaches Gitarren-Thema.
Wer will Satanist sein?
Um wieder ein bisschen mehr Schwung aufzunehmen, kommt Satanist gerade recht. Von Baker geschrieben, nachdem sie die Dokumentation Hail Satan gesehen hatte, gehen die drei auf die Suche nach Verbündeten: Julien sucht Anhänger des Satanismus, Phoebe möchte als Anarchisten die Bourgeoise erledigen und Lucy lädt zum Nihilismus ein. Gekonnt werden verschiedene Tempi verwendet, der Track, der zu Beginn von der E-Gitarre dominiert wird, endet verhältnismäßig ruhig im Chor.
You could absolutely break my heart I That’s how I know that we’re in love – was braucht man noch mehr, nach so einem Opening? Lucy Dacus breitet ihr Herz in We’re In Love aus, fragt danach, ob man sie auch noch lieben würde, wenn sich herausstellt, dass sie verrückt sei. Dieses Lied ist eine große Liebeserklärung – vor allem an Julien Baker und Phoebe Bridgers bzw. an die Freundschaft der drei im Allgemeinen. Lucy lässt sich sehr viel Zeit dafür, erst nach vier Minuten kommen die anderen beiden Sängerinnen dazu. Julien war zunächst gegen die Veröffentlichung des Lieds, da sie von der Zärtlichkeit und den Gefühlen überrannt wurde. Mittlerweile zählt er laut eigener Aussage zu ihren Lieblingssongs von The Record. Man kann auch verstehen, warum – obwohl keine große Entwicklung stattfindet.
Nicht ertrinken!
Vor dreißig Jahren war es sehr in Mode, eine Nahtoderfahrung am Strand von Malibu zu erfahren – da kamen dann durchtrainierte Rettungsschwimmer und retteten actionreich zahlreiche Leben. Abseits des Serienkosmos ist ein beinahe tödliches Schwimmabenteuer aber alles andere als romantisch. Julien Baker erlebte ein solches während der gemeinsamen Schreibweise. Obwohl von Phoebe wegen des starken Wellengangs gewarnt, wagte sich Julien ins Meer und ertrank beinahe. Diese Erfahrung teilt sie mit uns auf Anti-Curse. Ein klassischer Baker-Song, der sich dem Rock verschrieben hat und zahlreiche Insider boygenius‘ beinhaltet. Frei nach Joan Diddion fragt Julien: Was Anyone Ever So Young? Wenig später folgt der musikalische Ausbruch, den man erwarten durfte, der aber trotzdem noch genug Wucht hat, um umzuhauen.
Nahtlos schließen sie The Record mit Letter To An Old Poet, einer Adaption von Rilkes Letters to a Young Poet, ab. Sie gehen selbstbewusst, aber auch selbstkritisch mit einer toxischen Beziehung ins Gericht und bauen ihren eigenen Song Me & My Dog um. Der Closer lebt vom Text, endet leider ein bisschen zu rasch. I wanna be happy / I’m ready to walk into my room without lookin’ for you / I’ll go up to the top of our building / And remember my dog when I see the full moon. I can’t feel it yet / But I am waiting. Damit beendet Phoebe Bridgers das Debütalbum von boygenius.
Der Hype um diese Platte und um diese Band war groß – und erfreulicherweise konnten Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus die Erwartungen erfüllen. The Record kann nicht ansatzweise einen schlechten Song vorweisen, sondern eindrucksvoll unter Beweis stellen, wie demokratisch und ausgeglichen Musik sein kann. Trotz der unterschiedlichen Klangmuster der einzelnen Musikerinnen, ergibt sich ein herrlich rundes Projekt, das nur wegen Kleinigkeiten nicht als makellos bezeichnet werden kann. Die boys sind back und machen mehr Freude denn je.
8,9/10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.