© DOMINO RECORDS
Genre: PROGRESSIVE FOLK
Beth Gibbons ist mittlerweile 59 Jahre alt, hat aber von ihrer musikalischen Neugierde und Experimentierfreude überhaupt nichts verloren. Wem Beth Gibbons nichts sagt: Sie ist die Leadsängerin der Trip-Hop-Pionierband Portishead, die Anfang der 90er-Jahre quasi ein neues Genre begründet, oder zumindest maßgeblich geprägt hat. Trip-Hop baut ganz vereinfacht gesagt auf langsamere, gediegene Hip-Hop-Beat-Charakteristika und lädt ein wenig zum Träumen ein – zu einem Trip eben. Beth Gibbons ist diesem Sound auf Lives Outgrown, ihrem tatsächlichen Debütalbum nicht ganz untreu geblieben, hat aber auch sehr viele Abstecher in Richtung Chamber-Pop gemacht. Ums zu übersetzen: Das Album ist sehr atmosphärisch.
Sie lässt sich sehr viel Zeit, um die einzelnen Songs zu entwickeln, hält aber in jedem der zehn mitgebrachten Songs den Spannungsbogen hoch. Mit dem großen Unterschied zu ihren bisherigen Veröffentlichungen, dass sie jetzt auch fast schon klassischen Songaufbau verfolgt – gewissermaßen auf einen Chorus setzt. Produziert wurde das Album von ihr selbst und von James Ford, der derzeit so ziemlich jede Indie-Rock-Pop-Band unterstützt – von den Arctic Monkeys über Blur und Depeche Mode bis hin zu The Last Dinner Party. Außerdem hat Lee Harris, ehemaliger Drummer von Talk Talk ordentlich mitgewirkt. Worum es auf Lives Outgrown geht, ist nicht ganz eindeutig zu sagen, das liegt einfach am mysteriösen Schwermut, mit dem Beth Gibbons schreibt. Ein melodramatisches Album, vermutlich über das Älterwerden und die damit einhergehenden Veränderungen, Ängste, Verluste und die Trauer.
Beth Gibbons beeindruckt
Zehn Tracks voller Wehklang, aber auch voller tapferer Momente. I can change the way I feel / I can make my body heal singt sie im Opener Tell Me who you are today. Umgeben von Streichern, sanft und sachte wird sich vorgetastet. Die Atmosphäre holt schnell ab, das Mysteriöse, aber nicht düstere tritt in den Vordergrund. Immer eben ein wenig schwermütig, aber doch noch mit genug Durchschlagkraft ausgestattet, dass man gerne dabeibleibt und gespannt auf die kommenden Klänge wartet.
Diese folgen mit der Leadsingle Floating on a Moment. Dieser Song ist von einer enormen Spannung durchzogen, die zunächst ein schweres Atmen im Hintergrund prominent in Szene setzt, während sich der Song im Laufe immer heller und schöner, ja kathartischer entwickelt. Mit ein paar Choreinlagen, mit feinen Gitarren, fast himmlisch – wenn man bedenkt, dieser fünfeinhalbminütige Song startet jedenfalls enorm beeindruckend!
Der folgende Song Burden of life kann gewissermaßen für die Grundstimmung des Albums dienen – sowohl was den Titel als auch den Sound anbelangt. Die Last des Lebens wird von Beth einfach traumhaft abgebildet – ja, sicherlich ist das keine Musik, die dazu dient, jetzt großartig euphorisch herumzutanzen – aber in melancholischen Phasen, wenn es draußen ein bisschen grau ist und die Tropfen auf die Fenster prasseln, dann wird diese Musik noch wuchtiger.
Lost Changes fällt insofern auf, dass der Song mit für Beth untypischen Strumakkorden startet und so auch den Baustein für eine fast schon leichte Melodie, einen der wenigen fast durchgängig hellen Moment erschafft. Allerdings kann es auch daran liegen, dass ihre Hey You Over there-Gesangspassagen ein bisschen an Wet Leg erinnern.
Wie eine Odyssee
Wenig später wird Rewind von der Percussion angetrieben, wobei eigentlich eh alles hier nach vorne zieht. Ziemlich rastlos geht’s hier zu, vielleicht aber auch zum Träumen einladend, dass man sich in ein ganz anderes, vorheriges Jahrhundert wegbeamen kann.
Bläser kommen in Reaching Out dazu, während wieder ordentlich am Schlagwerk angekurbelt wird.I need your love to silence all my shame singt sie hier klagend und aufregend. Der Song steigert sich zunehmend, wird immer aufregender, hat viele Finessen parat. Ein Brett, eine Ekstase!
Die Weite des Ozeans wird im gleichnamigen Lied hörbar – sehr elegisch, sehr gleitend und schlichtweg schön nimmt die Melodie einen Platz ein, der nicht so schnell wieder zu füllen sein wird. Dieser Song ist so lieblich und groß, so einfach wie ausgeklügelt, dass man auch nicht mehr wirklich weiß, wie man es beschreiben soll. Da passieren so viele wunderbare Dinge, selbst die Tiefen des Ozeans scheinen von ein paar ausgewählten Tonfetzen perfekt vertont zu werden.
For Sale macht da fast nahtlos weiter, auch hier wählt Beth eine Melodie, die fantastisch ins Ohr geht, deren Streicher irgendwie auch noch ein maritimes Thema transportieren. Man fühlt sich in dieser Albumhälfte wirklich auf einem alten Segelschiff irgendwo vor der Küste Bristols mit nur noch einem weiten Meer vor sich, dramatisch mit vielen Hürden, aber noch genügend Rückenwind, dass man hoffnungsvoll in Richtung eines noch nicht zu sehenden Ufers segelt.
Auf Beyond the Sun passiert noch einmal sehr viel, von diesem fast mittelalterlichen Schlagzeug ausgehend, entwickelt Beth hier schon eine spannende Dynamik, mit sehr vielen unterschiedlichen, ziemlich jazzig interpretierenden Instrumenten, die dann auch die große Ankunft vorbereiten.
Denn auf dem Closer Whispering Love scheint man in der Tat anzukommen. Es quietscht zwar ein wenig und ich weiß nicht, wie sie diese Klänge aufgenommen hat, aber sie sind so wärmend und freundlich, dass man wirklich zu einer unerwarteten und ganzheitlichen Ruhe kommt.
Fazit Beth Gibbons -Lives Outgrown
Lives Outgrown hat ein bisschen was von PJ Harvey in sich, jedenfalls aber gezeigt, dass Beth Gibbons immer noch herausragende Musik schreiben kann. Es stimmt so viel zusammen, so viel Wehmut und dennoch Hoffnung, so herausragend vertont – einfach eindrucksvoll. Eine Odyssee, die man immer wieder gerne antritt, trotz der zwischenzeitlichen Gewitter. Ganz starke Scheibe.
8,9/10
Früher Sängerknabe, heute zwischen Fußball, Football und viel Musik. Im Herzen immer Punker.