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KENDRICK LAMAR – MR. MORALE & THE BIG STEPPERS

© Top Dawg Entertainment

Genre: Rap

Es ist da! Es ist endlich da! Nach fünf langen Jahren des Wartens hat das fünfte Studioalbum Mr. Morale & The Big Steppers von Kendrick Lamar den Weg an die Öffentlichkeit gefunden und dementsprechend das Internet und die Musikwelt zur kollektiven Schnappatmung und zum kurzzeitigen Zusammenbruch der Streamingdienste gebracht. So wie immer, wenn K-Dot etwas droppt.

Denn seit seinem 2011 erschienen Debüt Section.80 hat Kendrick eine stetige Entwicklung genommen, die ihn im Laufe der Jahre zum größten und einflussreichsten Rapper seiner Generation und zu den Allzeitgrößen aufsteigen haben lassen. Sein zweites Album Good Kid, M.A.A.D City brachte den Durchbruch, ließ die Welt noch einmal nach Compton und in die Tiefen des Ghettos blicken. 2015 folgte To Pimp A Butterfly, das einflussreichste Album der letzten Dekade oder vielleicht sogar das gesamten neuen Jahrtausends, das sich dem ständigen Überlebenskampf der schwarzen Bevölkerung in einer von Rassismus geprägten Welt widmete und dabei sämtliche genrergängigen Grenzen überwinden und weiterentwickeln konnte. Sein bisher letztes Studioalbum Damn ließ Kendricks Glauben in den Vordergrund rücken und brachte ihm als ersten Künstler der Rap/Pop-Welt überhaupt den Pulitzerpreis ein. Wie kann man also nicht gehypt sein, wenn nach fünf Jahren wieder neue Musik des größten Rappers unserer Tage erscheint?

Fast schon traditionell, geht Kendrick nicht den typischen Weg, um ein Album anzukündigen, sondern übt sich in kryptischen Botschaften: Eine reduzierte Internetseite, die nach und nach mit sehr dürftigen, aber essentiellen Botschaften befüllt wurde. Am 18. April wurde das Album angekündigt – als letztes auf seinem bisherigen Label TDE. Anfang Mai verriet er den Namen Mr. Morale & The Big Steppers. Vergangenen Sonntag überraschte er uns mit The Heart Pt. 5, dem fünften Teil der The Heart-Serie, was zugleich auch seinen ersten Solo-Singledrop seit 2017 bedeutete. Lyrisch als auch auf Grund des unglaublich mächtigen Musikvideos, konnte man sich einmal mehr davon überzeugen, dass Kendrick in einer eigenen Liga unterwegs ist. Er stellte soziale Ungerechtigkeiten wieder in das Zentrum seiner Botschaft und sorgte so dafür, dass man sich für das neue Album allerhand kritischer Aussagen prophetischer Auswüchse wünschte. Kenner seiner Dskografie merkten zudem rasch an, dass The Heart Pt. 5 wohl nicht auf dem Album zu finden sein wird, hat es doch noch keiner der Songs der Serie auf eine Langspielplatte von Lamar geschafft.

Dafür gab es zwei Tage vor Release das Cover zu Mr. Morale & The Big Steppers, dass ihn mit Dornenkrone, seiner Frau und den zwei Kindern zeigt. Die Dornenkrone für den Mann, der zum Retter des Raps, mehr aber noch zum Retter der schwarzen Bevölkerung auserkoren wurde. Und auch darum geht es auf Mr. Morale & The Big Steppers, dem Doppelalbum mit 18 Tracks und einer Dauer von 78 Minuten.

Das ist also ein ordentliches Brett geworden und verdient dementsprechend viel Zeit und Aufmerksamkeit des Hörers, um auch genau folgen zu können, was Kendrick zu sagen hat. Die Schnelllebigkeit des Internets verlangt eine sofortige Bewertung eines solchen Werks, was natürlich nichts anderes als extrem dämlich ist. Weder falsche Ehrfurcht noch übermäßiges Suchen nach Fehlern sind angebracht. Genießen wir das Werk und gehen es Track by Track durch.

Die Themen

Im Gegensatz zu früheren Werken – vor allem Good Kid, m.a.a.d. City, verzichtet Kendrick darauf, eine kongruente Geschichte zu erzählen. Die Themen von Mr. Morale & The Big Steppers sind breitgefächert und behandeln hauptsächlich Kendricks persönliche Probleme und Entwicklungen seines Lebens: Trauma, Depression, mentale Gesundheit, Schreibblockaden, Untreue, Sexsucht, Cancel-Culture aber auch Trans-Rechte und Missbrauch, hauptsächlich jenen in der schwarzen Community. Kendrick hat keine Lust mehr, der große Prophet zu sein, der von der Welt als großer Retter der Gesellschaft gesehen wird. Lieber möchte er zeigen, dass er auch nur ein Mensch ist, der mit denselben Problemen, Grübeleien und Zweifeln zu kämpfen hat, wie alle anderen Menschen.

Features und Production

Auf Mr. Morale & The Big Steppers finden sich der ein oder andere Gast. Der Sänger Blxst oder die ehemalige Leadsängerin der Reggae-Band Core Drive Amanda Reifer scheinen ebenso auf, wie Sampha, die US-Amerikanische Schauspielerin Taylour Paige sowie Summer Walker und Wu-Tang-Clan-Legende Ghostface Killah. Auf Disc zwei wartet mit Kodak Black eine kontroverse Personalie auf uns, während Cousin Baby Keem und Sam Dew als auch Labelkollegin Tanna Leone und Portishead-Frontfrau Beth Gibbons mit von der Partie sind. Außerdem steueren Kendricks Lebensgefährtin Whitney Alford und der deutsche Autor Eckhart Tolle einige gesprochene Skits bei. Gerade diese beiden Personen sind essentielle Figuren von Mr. Morale & The Big Steppers da sich Kendrick des Öfteren auf seine Frau als auch auf den Autor, der quasi eine moralische, spirituelle und psychoreinigende Wirkung auf ihn erzielt, beruft.

Produziert wurde Mr. Morale & The Big Steppers hauptsächlich von den alten Weggefährten Sounwave, j.lbs, DJ Dahi und Bekon, es finden sich aber auch Namen wie The Alchemist, Boi-1da oder Pharrell Williams in der Credit-Liste.

CD 1 – BIG STEPPERS

Obwohl Kendrick sein Werk Mr. Morale & The Big Steppers nennt, startet die Platte mit dem Letztgenannten Abschnitt, also Big Steppers. Beide Seiten weisen neun Tracks bei nur marginalem Längenunterschied auf.

UNITED IN GRIEF

1855 Tage sind vergangen, seitdem Kendrick uns zum letzten Mal mit einem neuen Album beglückt hat. Diese Zahl stellt er auch an den Anfang des Openers und er eröffnet uns, dass er durch ziemlich viele Probleme gegangen ist: Schreibblockade, mentale Herausforderungen, vielleicht auch ein bisschen generellen Weltschmerz. Er startet reduziert auf einen klavierbeat, ehe die ein Beatwechsel einsetzt und die Drums übernehmen, nur um dann in Zusammenspiel mit dem Klavier und ein paar Holzbläsern das gesamte Instrumental übernehmen. Streicher kommen noch hinzu, wenn Kendrick sagt, dass er anders trauert. I grieve different. Er reflektiert seine bisherige Karriere, erzählt von seinen materiellen Besitztümern, die ihn nur vermeintlich von seinen wahren Problemen ablenken und von einer Affäre mit einer grünäugigen Schönheit, die sich auf einer rein sexuellen Ebene abspielte. Über allem thront das Traume und die Trauer, die ihn zu solchen Entschlüssen brachte. Ein Opener, der erahnen lässt, wohin uns Kendrick dieses Mal führen möchte. Von seinem Flow, seinen Lyrics und seiner Delivery hat er in den Jahren der Pause nichts eingebüßt.

N95

Ein Song über eine Maske? Nur oberflächlich, auch wenn er die Pandemie behandelt. You’re back outside, but they still lied erwähnt er im a-Capella Intro. Ein paar Drums unterstützen ihn zu Beginn der ersten Strophe, bis der Synthi einsetzt und ein ordentlicher Bangerbeat entsteht. Kendrick gibt uns den Ratschlag, die Maske zunächst abzunehmen, nur um in der Hook anzumerken, dass man ugly as fuck (You outta pocket) ist – ohne Maske. Er steigert sich ordentlich hinein, zeigt mit seiner unwiderstehlichen stimmlichen Vielseitigkeit auf und spricht über Heuchler die sich in einer Gesellschaft als die einzig relevante – oder notwendige – Gruppe halten. Außerdem erwähnt er zum ersten Cancel Culture und die Verwendung des N-Worts, dessen Debatte sich als wiederkehrendes Thema auf Mr. Morale & The Big Steppers finden lässt. Say what I want about you niggas, I’m like Oprah, dawg

I treat you crackers like I’m Jigga, watch, I own it all ­– dem geht ein Interview von Oprah Winnfrey und Jay-z voraus, indem sie über die Nützung des Wortes debattieren und zu unterschiedlichen Ansätzen kommen. Musikalisch betrachtet ein kompletter Banger – von vorne bis hinten hoch energetisch, nach vorne drängend und typisch vielschichtig.

Wichtiger Einwand zum Schluss: Oh, you worried ’bout a critic? That ain’t protocol.

WORLDWIDE STEPPERS

Der erste Auftritt von Kodak Black, der das Intro sprechen darf und gleich einmal zeigt, dass er sich sehr schwertut, einen deutschen Namen auszusprechen. Extrem reduzierter, ein bisschen mysteriöser Beat, sehr viel erinnert hier an einen Track aus vergangenen Tagen, sowohl wegen des Flows, als auch der allgemeinen Stimmung könnte man von einem Song aus Good Kid, m.a.a.d City-Tagen ausgehen. Kendrick spricht über seine fünfjährige Pause, über seine beiden Kinder, die in dieser Zeit geboren wurden und über deren Einfluss auf sein Leben. Seine Schreibblockade wird noch einmal thematisiert, die er dank seines Glaubens überwinden konnte.

Der größte Teil von Worldwide Steppers handelt aber von sexuellen Beziehungen. Sexuelle Fremdsprünge außerhalb der Beziehung mit Whitney, vor allem jene mit weißen Frauen, für die er sich insofern schämt, als dass seine Vorfahren ihn dafür wohl verurteilen würden. Oder seine Partnerin, wie er anführt: Whitney asked did I have a problem / I said, “I might be racist” / Ancestors watchin’ me fuck was like retaliation. Vergeltung für die jahrhundertlange Unterdrückung.

Die Hook widmet er der Cancel Culture. Jeder in den sozialen Netzwerken scheint ein Killer zu sein und nur darauf zu warten, die nächste Person canceln zu können.

I’m a killer, he’s a killer, she’s a killer, bitch
We some killers, walkin’ zombies, tryna scratch that itch
Germophobic, hetero and homophobic
Photoshoppin’ lies and motives
Hide your eyes, then pose for the pic

Der Beat switch zur dritten Strophe kurz, bis er wieder zur ursprünglichen Form zurückkehrt. Er nützt sie um die Medien als neue Religion anzukündigen, die das Bewusstsein getötet haben oder um die Dünnhäutigkeit der Gesellschaft im Allgemeinen zu behandeln. Das klingt hier verschwörungstheoretischer als es Kendrick tatsächlich ausdrückt. Sein Auge und Gespür für eine Gesellschaft, die sich den sozialen Netzwerken verschrieben hat, ist jedenfalls treffsicher am Punkt.

The noble person that goes to work and pray like they ‘posed to?
Slaughter people too, your murder’s just a bit slower
Wenn eben der nächste Skandal schon um die Ecke wartet…

DIE HARD (BLXST, AMANDA REIFER)

Ein Song wie von Nipsey Hustle. Kendrick holt sich Blxst und Amanda Reifer an seine Seite und es entsteht ein enorm smoother RnB-Rap-Track über Zweifel und Ehrlichkeit in einer Beziehung. Kendrick geht sogar so weit, dass er seine Zweifel über seine Fähigkeiten eine echte und aufrichtige Beziehung zu führen klar zum Ausdruck bringt und über Unsicherheiten auf Grund von Traumata vergangener Beziehungen spricht. Trotzdem scheint er langsam angekommen zu sein: I got some regrets (I-I-I, yeah, yeah) / But my past won’t keep me from my best. Zum Schluss erwähnt Blxst Laurel London, Nipsey Hustles Freundin, deren Beziehung mit dem verstorbenen Rapper als Vorbild eines intakten Zusammenlebens gilt: Baby, you make me pray for London / Yeah, ’cause if I won it all without you involved (fucking love you) / I guess it’s all for nothing.

Dieser Track ist deutlich melodischer als die bisher gehörten, was natürlich auch an den Gästen liegt. Sowohl Blxst als auch Amanda bringen eine ganz feine Portion Gefühl mit, das auch bei Kendrick Spuren hinterlässt und ihn ruhiger, aber nicht weniger aussagekräftig rappen lässt. Das Instrumental ist facettenreich, hat Klavier, Streicher aber auch diverse Glockenspiele zu bieten.

FATHER TIME (FEAT SAMPHA)

You really need some therapy. Whitney beginnt Father Time mit einem Ratschlag an ihren Partner. Der hat so überhaupt keinen Bock darauf (Real nigga need no therapy, fuck you talkin’ about? / Shit, everybody stupid). Aber er scheint doch eingelenkt zu haben. Father Time beschäftigt sich mit „Daddy Issues“ wie es Kendrick ausdrückt. Mit falscher Maskulinität, mit falschen Rollenbildern, die in Tragödien enden, die man dann auf den Straßen in der Gang Kultur betrachten kann.

Er wählt wieder Streicher und Klavier um dem Intro die nötige Stimmung zu geben, ehe früher als später ein ultrasmoother Beat einsetzt, über den er seine Erfahrungen mit der angesprochenen Maskulinität rappt. Sampha übernimmt den passenden Refrain, während Kendrick noch erwähnt, dass er von der Versöhnung zwischen Kanye und Drake überrascht war und er doch nicht so reif ist, wie er sich das gedacht hat. Liegt eben wieder an den Werten die er von seinem Vater eingetrichtert bekam, der wohl lieber einen blutigen Fight, als eine erwachsene Aussprache bevorzugen würde. Die Schlüssel-Line findet sich am Ende:

And to my partners that figured it out without a fathe
I salute you, may your blessings be neutral to your toddlers
It’s crucial, they can’t stop us if we see the mistakes
‘Til then, let’s give the women a break, grown men with daddy issues

Schlussendlich bleibt die meiste Arbeit an den Frauen kleben, die ihre Partner dann noch durch deren Trauma helfen müssen und gleichzeitig noch die Erziehung der Kinder – mit den richtigen Werten – übernehmen sollen. Deshalb wär Kendrick glaub ich recht froh, wenn sich mehrere seiner männlicher Hörer bei ähnlichen Problemen in Therapie begeben würden. So wie er es getan hat.

RICH (INTERLUDE)

Kodak Black spricht wieder zu uns. Oder besser gesagt, er nuschelt halt so vor sich hin, wie man es von ihm gewohnt ist. Ein Interlude mit einer Dauer von knapp zwei Minuten, dessen aufwendiges Klavier deutlicher im Ohr bleibt, als das, was Kodak von sich gibt. Und es ist jetzt auch an der Zeit, um über die Rolle zu sprechen, die Kodak Black auf diesem Album einnimmt.

Wenn Kendrick an Album droppt, ist man natürlich auch gespannt, wen er auf diese elitäre Reise mitnimmt. Gibt es endlich mal ein offizielles Gipfeltreffen mit J. Cole? Holt er sich die Übergrößen Nas oder Jay-Z dazu? Doch mal was mit Andre 3000? Also mit Künstlern, die neben ihm auch ordentlich Glanz mitbringen und in der Öffentlichkeit ein ähnliches Ansehen genießen, als er es tut. Auf Damn. schnappte er sich Rihanna und U2. Dieses Mal bekommt Kodak Black diesen Raum, worüber ebendieser in diesem Interlude auch schwadroniert. Kendrick überlässt ihm zwei Minuten Laufzeit. Einem Typ, der unter anderem wegen sexueller Belästigung sowie sexueller Nötigung und Körperverletzung schuldig gesprochen wurde. Er selbst bekannte sich schuldig, gibt aber weiterhin an, sein Opfer, eine Minderjährige, nicht vergewaltigt zu haben. Das Strafregister von Kodak Black ist lang, unerlaubter Drogen- und Waffenbesitz, Raubüberfälle – you name it, he got it. Black wurde zu mehrere Jahren Haft verurteilt, aber vom damals scheidenden Präsidenten Donald Trump begnadigt.

Ok, allein das alles kommt schon nicht gut. Vor allem nicht auf einem Album, dass sexuelle Traumata massiv ins Zentrum des Besprochenen stellt. Ähnlich wie bei Kanyes Einladung für Marilyn Manson bei Donda mitzuarbeiten, kann man sich nur fragend am Kopf kratzen, warum Kendrick unbedingt auf Kodak Black zurückgreifen musste. Zumal er zwei Tracks zuvor noch über Nipsey Hustle und seine Partnerin Lauren London rappte und ihnen Tribut für ihre Beziehung zollte. Warum das wichtig ist? Weil Kodak Black sich nach dem Tod Nipsey dazu bereiterklärte, auf Lauren zu „warten“ um mit ihr dann Sex zu haben. Er würde „ihr ein ganzes Jahr geben, wenn es so lange brauchen würde, bis sie mit der Trauer fertig sei“. Daraufhin kündigten Radiosender an, seine Musik nicht mehr zu spielen. Und den nimmt Kendrick auf sein Album?

Das Album nennt sich Mr. Morale & The Big Steppers undspricht über Cancel Culture. Dementsprechend kann man argumentieren, dass Kendrick absichtlich eine solche Personalie aus dem Hut zaubert, um die Hörer bei ihren eigenen moralischen Werten zu packen. Außerdem gilt Kendrick als jemand, der immer wieder betont, dass diese Menschen, also verurteilte, junge schwarze Männer, Mitgefühl und Verständnis verdienen, da ihre Umgebung ihr Verhalten prägt und sie deshalb auch so etwas wie Erlösung verdienen. Aber so einfach geht das nicht. Nicht, wenn jemand wie Kodak Black weiterhin keine Rechenschaft oder Verantwortung für seine Taten übernimmt. Statt Kodak als Symbol dieses gesellschaftlichen Traumas einer Generation zu verwenden und ihm diese massive Plattform zu bieten, hätte er lieber das Opfer sprechen lassen. Zumal jenes durch die Prominenz Kodaks selbst wieder in eine Traumaspirale gebracht werden kann.

Kendrick scheint bewusst jemanden wie Kodak ausgesucht zu haben, der alle Checkboxen eines jungen, schwarzen, auf Grund seiner Herkunft traumatisierten Mannes erfüllt, der zu grausamen Taten fähig ist. Diese Durchschaubarkeit, diese bewusste Provokation, hätte er sich sparen müssen. Im Hinblick auf den in We Cry Together gebrachten Vorwurf, Frauen würden Frauen nicht unterstützen, wäre ein weibliches Feature fast schon notwendig gewesen, um sich selbst nicht in den Spuren der Heuchelei wiederzufinden.

RICH SPIRIT

Gut, kommen wir wieder zum musikalischen. Rich Spirit handelt vom Vertrauen in sich selbst und den Mechanismen, mit Kritik umzugehen. In Kendricks Fall ist das meist relativ praktisch, da es entweder keine Kritik gibt, oder er sie auf Grund seines nur sehr sporadisch vorhandenen Social Media-Lebens nicht mitbekommt. Alles hier ist sehr melodisch und ausgewogen, aber auch ein bisschen verträumt. Auch die narzisstischen Züge unserer Zeit werden behandelt. Niemand hat jemals smoother über Fasten gerappt als Kendrick hier. 

WE CRY TOGETHER (TAYLOUR PAIGE)

Der wohl derbste Track des gesamten Albums. Kendrick skizziert eine ultratoxische Beziehung nach und holt sich dafür Schauspielerin Taylour Paige an seine Seite, die eindrucksvoll beweist, dass sie auch locker im Rapgame Karriere machen könnte. Die Tragik und der Nachdruck des Vortrags beider Stimmen, die Abneigung, der pure Hass, ist in jeder Sekunde zu spüren. Die Hook besteht eigentlich nur aus unzähligen fuck you-Wiederholungen, die auf dem Rap-Kultfilm Poetic Justice mit den Hauptdarstellern Tupac shakur und Janet Jackson beruht. Dabei darf man aber nicht den Fehler begehen und sich von den stumpfen Beschimpfungen ablenken lassen. We cry together beginnt mit einem Sample von Florence + The Machine und nimmt in den folgenden Minuten – trotz ultrareduziertem Klavierbeat von The Alchemist – an Kraft und Ausdruck zu.

Und klar, das wird unangenehm – weil man einem sehr unangenehmen, aber auch authentischen „Dialog“ lauschen darf. Kendrick und Taylour hauen sich allerlei Dinge an den Kopf, warum dieses und jenes Verhalten nichts anderes als eine komplette Katastrophe beim Gegenüber auslöst. Da kommen dann auch durchaus amüsante Lines zustande, wenn Taylour etwa sagt, dass sie einen Kerl mit einem größeren Penis finden hätte sollen oder er und seine übertriebene Männlichkeit der Grund für den Erfolg diverser Donald Trumps in dieser Welt sei. Oder auch, für die Verbrechen von R. Kelly. Kendrick kontert all das, indem er auf den fehlenden Zusammenhalt von Frauen untereinander hinweist und er sie eine Fake-Feministin nennt. We cry togehter ist ein knapp sechsminütiger, enorm überzeichneter Track, der damit endet, dass die beiden wohl den Weg zum Versöhnungssex finden. Stop tap-dancing around the conversation heißt es am Schluss, was wohl auch als Mantra seines Therapeuten zu verstehen sein kann. Jedenfalls haut einen die Wucht von Taylour Paige nachhaltig um und man hofft zudem, dass man sich niemals nur ansatzweise in so einem Gespräch wiederfindet.

PURPLE HEARTS (SUMMER WALKER, GHOSTFACE KILLAH)

Der letzte Song von BIG STEPPERS hat Summer Walker und Wu-Tang-Legende Ghostface Killah mit dabei. Ganz feiner Synthi-Drum-Beat, der jedem der Teilnehmer guttut. Ein Song über Drogen – anzunehmend Lean, weil purple – Liebe und Spiritualität. Kendrick möchte Bob Marley krönen, während Summer das Rollenbild des Golddiggers umdreht und sich über Männer beschwert, die nur wegen ihres Geldes und Ruhms mit ihr zusammen sein wollen. Auch interessant: No, it ain’t love if you ain’t never eat my ass. Auch schön: That’s why I’m anti-everyone before this mask – also social distancing schon bevor es zur Pflicht wurde. Ghostface hungrig wie eh und eh mit einer schönen Strophe über Gott, Glaube und Spiritualität im Allgemeinen. Fünfeinhalb kurzweilige Minuten.

CD 2 – Mr. Morale

COUNT ME OUT

I love when you count me out wiederholt Kendrick auf dem ersten Track der zweiten CD immer und immer wieder. Wie der Titel schon verrät, dreht sich alles um eine Person, eine verflossene Liebe, der Kendrick offenbar nicht gut genug war. Die daraus resultierenden Zweifel begleiten ihn bis heute, dank Therapie hat er sich aber zu lieben gelernt und er kann die schönen Facetten seiner aktuellen Beziehung mehr denn je genießen. Ein wirklich feiner Track, mit einem in Hochform spittenden Kendrick, der auf dezente Einlagen eines Chores setzt, die diesem Lied noch mehr Tiefe verleihen. Wir sind zwar weit weg von sakralen Klängen, bekommen dafür aber einen Beat, der in Damn-Zeiten entstanden hätte sein können. Miss Regrets, I believe that you done me wrong – guter Take, Kendrick.

CROWN

Man kann in einen Menschen nicht hineinschauen. Was von außen gut und glücklich aussieht, kann innen tatsächlich zerrissen und zerstört sein. Das Klavierthema baut sich behutsam auf, Kendrick beginnt in tiefer Tonlage, switcht zur Bridge aber in Höhen, als er davon spricht, dass sich die Liebe mit den Jahreszeiten ändern kann. And I can’t please everybody / No, I can’t please everybody / Wait, you can’t please everybody bemerkt er in der Hook. Der zweite Vers handelt von Kendricks öffentlichem Ansehen als einer der besten Rapper unserer Tage.

They idolize and praise your name across the nation
Tap the feet and nod the head for confirmation
Promise that you keep the music in rotation
That’s what I call love (That’s what I call love)

Trotzdem herrscht Unsicherheit in Kendrick. Erst wenn er Bewegungen seiner Fans zu seiner Musik sieht, fühlt er diese auch bestätigt. Das Versprechen, seine Musik in der Rotation zu behalten, kann als Fortsetzung von Sing About Me, I’m Dying Of Thirst, einem Track von Good Kid, m.a.a.d City betrachtet werden.

Sowohl William Shakespeare als auch Evangelist Lukas werden von Kendrick zitiert:

Heavy is the head that chose to wear the crown
To whom is given much is required now

Erste Zeile stammt aus Shakespears König Heinrich, während die zweite Zeile im Lukas-Evgelium zu finden ist. Frei übersetzt:

Schwer ist der Kopf, der sich entschieden hat, die Krone zu tragen
Wem sie gegeben wird, dem wird jetzt viel abverlangt

Die Rolle des Retters und Propheten wurde Kendrick vor einigen Jahren schon aufgetragen bzw. er hat sie sich selbst gegeben. Um dem Druck standhalten zu können, begab er sich in Therapie. Die Einsicht, dass er es nicht jedem Recht machen kann, wiederholt er zum Ende fast Mantra artig, versöhnlich: I can’t please everybody (I can’t please everybody). Diese Line erinnert zudem an The Heart Part 5 auf dem er bemerkte: As i get a little older, i realize life is perspective.

SILENT HILL (Kodak Black)

Das Feature mit Kodak Black wird zum Trap-Song. Falsche Freundschaften auf Grund des Ruhms und des Geldes stehen im Zentrum, während immer noch Raum für andere Probleme des Lebes bleibt. Kendrick entwickelt sich wie auch der Beat ganz fein, kann zwischen verschiedenen Intonationen wechseln und damit auch auf Anklang stoßen. Kodak versucht selbiges zu kopieren, scheint dabei aber auch sein Taktgefühl verloren zu haben. Alles was er sagt, ist zudem nicht wirklich von Belangen, was dieses Feature auch musikalisch verwerflich erscheinen lässt. Beat als auch Kendricks Performance würden allein schon zu was sehr Starkem reichen.

SAVIOR (INTERLUDE)

Das zweite Interlude dieses Albums gehört Eckhart Tolle und Baby Keem. Letzterer rapt über sein bisheriges Leben, seine Familie und die Hürden, die er nehmen musste, um dahinzukommen, wo er jetzt ist. Obwohl Kendrick nicht zu Wort kommt, fühlt sich der Track passend an, zumal Keem auf den von gezupften Streichern aufgebauten Beat eine hörenswerte Leistung bringen kann.

SAVIOR (BABY KEEM, SAM DEW)

Geschmeidig gleiten wir dank eines Klaviers ohne weitere Cuts in den nächsten Track. Savior ist ein ebenbürtiges Rapfeuerwerk zwischen Kendrick und Baby Keem, bei dem beide glänzen können und dürfen.

Kendrick adressiert Kodak Black noch einmal: Like it when they pro-Black, but I’m more Kodak Black. Er spricht also (noch einmal) über die eintägige Solidarität der weißen Bevölkerung mit schwarzen Künstlern, als Instagram voll mit schwarzen Kästchen war. Aber die Solidarität höre offenbar bei Künstlern wie Kodak Black auf. Ein weiteres zentrales Thema dieses Songs ist Covid und die Rolle von Vorbildern wie NBA-Star Kyrie Irving, der zu den bekanntesten Impfgegnern des Landes zählte.

Seen a Christian say the vaccine mark of the beast
Then he caught COVID and prayed to Pfizer for relief
Then I caught COVID and started to question Kyrie
Will I stay organic or hurt in this bed for two weeks?

In den vergangenen Jahren wurden die Rufe nach Äußerungen von Kendrick zur Black Lives Matter-Bewegung immer lauter. Herausbekommen hat man nie etwas von ihm. Das ändert er jetzt mit den Zeilen: One protest for you (High up) / Three-sixty-five for me. Sein Leben ist das ganze Jahr ein Kampf und Protest, nicht nur an einem Tag.

Den Krieg in der Ukraine adressiert er ebenfalls: Vladimir making nightmares (How I get so low?).

In Strophe drei stellt er ein für alle Mal klar, dass er nicht unser Retter ist und das jeder einzelne selbst denken kann. The cat is out the bag, I am not your savior… Yeah, Tupac dead, gotta think for yourself.

All das geschieht auf einem ultrasmoothen Klavierbeat, der in der Hook Baby Keem zum Einsatz bringt. Immer wieder fragt er Bitch, are you happy for me? / Really, are you happy for me? Sam Dew trägt Extravocals in diversen Strophen bei.

Ein Track über Kendricks Rolle in der BLM-Bewegung und sein Retter-Image, das er damit endgültig ablegen möchte.

AUNTIE DIARIES

Neben We Cry Together dürfte Auntie Diaries den unerwartetsten Song des Albums darstellen. Kendrick nimmt sich als erster Mainstream-Rapper den Rechten von Transsexuellen Menschen an und thematisiert auf diesem Track den Weg seiner Tante von Frau zu Mann. Dabei geht er auch hart mit sich ins Gericht, erklärt seine frühere Selbstverständlichkeit in Bezug auf die Verwendung des Schimpfworts „Schwuchtel“ und möchte Bewusstsein schaffen, dass man es wie das N-Wort aus dem allgemeinen Gebrauch verbannt. Dafür wählt er einen seiner berühmtesten Auftritte, als er eine weiße Frau für seinen Song M.A.A.D. City auf die Bühne holte und auch relativ schnell wieder wegschickte, als sie wiederholt das N-Wort mitrappte.

Auntie Diaries ist ein Song, über den man stundenlang sprechen könnte. Man könnte jede Line sezieren und analysieren und zu verschiedenen Schlüssen kommen. Die Meinungen zu diesem Text und Track gehen auch in der Trans-Community weit auseinander, schon jetzt, wenige Tage nach Release. Auf der einen Seite stehen jene, die sich zwar irgendwie darüber freuen, dass ein Künstler wie Kendrick Lamar sich diesem Thema angenommen hat, ihn aber auch für seine derbe Wortwahl, das Erwähnen des Deadnames und das unpassende Verwenden der falschen Pronomen kritisieren. Auf der anderen Seite finden sich auch Betroffene, die durchaus Verständnis für den von Kendrick gewählten Ansatz aufbringen können. Im Hinblick auf den Einfluss des Songs für die Rapwelt, also popkulturell betrachtet, bleibt wohl nur das Prädikat bemerkenswert. Kendrick hievt Hiphop ins Jahr 2022 und verabschiedet Homophobie mit einem Knall. Wenn man bedenkt, wo Rap vor zehn Jahren stand, als sich Frank Ocean outete, ist dieser Schritt nur konsequent und längst überfällig.

MR. MORALE (TANNA LEONE)

Der titelgebende Track verwendet ein elektronisches Instrumental und behandelt einmal mehr gesellschaftliche Traumata, die ganze Generationen beschäftigen. Kendrick wendet sich an seine Kinder Enoch und Uzi und fragt sich wie das Leben von R.Kelly und Oprah Winfrey ausgehen hätte, wenn sie beide nicht an verschiedenen Punkten ihres Lebens belästigt oder misshandelt worden wären. Labelkollege Tanna Leone macht auch mit und kann zwischen den Beatwechseln für die nötige Portion Würze sorgen. Der Nachdruck in Kendricks Stimme, wenn er darüber spricht, wie hartnäckig diese Gedanken auf seiner Seele liegen, ist glaubwürdig und aufrichtig.

MOTHER I SOBER (BETH GIBBONS)

Und plötzlich kommt aus dem Nichts Beth Gibbons daher und zaubert einen wundervollen Refrain für Mother I Sobber hervor, der einen der wohl besten Tracks in der gesamten Diskografie Kendricks besonders abrundet. Kendrick vergeudet keine Zeit und teilt schon zu Beginn enorm Persönliches. Er rappt von der Misshandlung seiner Mutter die er als Fünfjähriger mitbekommen hatte und den Vorwürfen, die er sich macht, damals nicht eingeschritten zu haben. In Kendricks Mutter hingegen wächst die Sorge, dass Kendrick ähnliches widerfahren würde. Er erzählt, wie seine Mutter ihn immer und immer wieder fragte, ob ihn sein Cousin misshandelt hätte und Kendrick immer und immer wieder – aufrichtig und ehrlich – verneint. Sie wollte ihm keinen Glauben schenken.

Im weiteren Verlauf betont Kendrick, niemals von Drogen abhängig gewesen zu sein – außer von einer Sache: Sex. Dadurch konnte er seine Probleme für wenige Momente vergessen, nur um draufzukommen, dass er noch größere damit kreierte. Whitney, seine Partnerin, riet ihm zu einer Therapie, da er die Sucht alleine nicht überwinden können würde. Kendrick schlägt anschließend die Brücke zu den Misshandlungen, die die schwarze Bevölkerung in der Sklaverei durchmachen musste und wie sehr dieses Trauma noch immer in den Familien hängt.

Dieser Track streckt sich auf knapp sieben Minuten und ist ein einziges Meisterwerk. Sowohl lyrisch als auch durch seinen Vortrag wird dieser Song Emotionen auslösen. Kendricks finale Strophe, wenn er von den Erlösungen spricht, fühlt sich auch wirklich wie eine solche an. Der Wechsel zwischen ihm und Beth Gibbons ist herausragend, die Stimmungen, die durch den reduzierten oder auch aufgeladenen Beat projiziert werden, sind mächtig und kraftvoll. Wenn Whitney ihm zum Schluss noch ausrichtet, wie stolz sie auf ihn ist, wird einem endgültig bewusst, wie stark diese Frau ist und wieviel das Paar bzw. die junge Familie schon durchmachen musste. Aber leider eben auch sehr viele andere schwarze Familien.

MIRROR

Der letzte Song dreht sich um den Ruhm und den Umgang mit ebendiesem. Dafür wählt er einen von Percussion und Bläsern aufgeladenen Beat, der in der Hook Streicher hinzufügt und in der er sich dafür entschuldigt, dass er sich für sich selbst und nicht für die Rolle des Retters entschieden hat. Kendrick verfällt ein wenig mehr in den Gesang, was diesem Song eine zusätzliche Portion Euphorie verleiht. Sorry I didn’t save the world, my friend /I was too busy buildin’ mine again. Das kann ihm niemand verübeln. Ein fantastischer Abschluss eine hochemotionalen Achterbahnfahrt.

FAZIT

Die Sache ist die: Bei Alben dieser Größe wird in dieser schnelllebigen und in ständiger Konkurrenz stehenden Gesellschaft gerne auf das Wesentliche vergessen: Die Freude an der Musik. In einigen Subreddits wurden sogar Anleitungen zum richtigen Hören dieses Albums gepostet, was dem Sinn der Sache nicht ferner sein könnte. Mr. Morale & The Big Steppers hat nicht die durchgängige Rollen-Erzählweise von Good Kid, m.a.a.d. City, dafür aber wieder einige Themen, die sich durch das gesamte Album durchziehen. Auch wenn Kendrick schon in der Vergangenheit nicht mit persönlichen Einblicken geizte, legt dieses Album noch eine Spur zu. Obwohl die ganz großen Banger fehlen, bleibt Kendrick wuchtig und verlagert den Fokus auf das Wesentliche. Abgesehen von der Fehlbesetzung Kodak Black, gibt es an diesem Album nichts zu kritisieren. Es wächst mit jedem weiteren Hörgang. Wer eine Wertung hören möchte, dem soll die höchstmögliche erklingen. Alle anderen sollen die 78 Minuten einfach genießen.